Der Hörsaal 1 der Stadtteilschule Mümmelmannsberg wurde im Oktober 2023 zur Bühne für das Stück „Ich wandre durch Theresienstadt – Erinnern, um zu verhindern“. Zum Start der Inszenierung wurden Fakten über die Köpfe des Publikums hinweg in den dunklen Hörsaal gesprochen: „Europaweit – über sechs Millionen Juden“ sagte eine Stimme. „118.000 aus Theresienstadt – tot!“ sagte eine andere. „Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle“, zählten weitere Stimmen auf. „Verhungert, gefoltert, hingerichtet“, riefen sie, und: „Theresienstadt – als Vorzimmer zu Auschwitz!“.
Eindringlicher Auftakt des multimedialen Stückes, das von fünf Oberstufenschülerinnen entwickelt und dargestellt wurde. In einem Rollenspiel nahmen sie die Positionen von ehemaligen Häftlingen und einer NS-Anhängerin ein und blätterten mit diversen Wortbeiträgen die Schicksale der damaligen Insassen des Lagers auf. Begleitet wurden die Berichte von Musik und Videofilmen, die einen tiefen Einblick in die Geschehnisse des einstigen sogenannten Vorzeigelagers der Nationalsozialisten im heutigen Tschechien gaben.
„Bevor wir mit dem Stück begannen, wusste ich nichts über das KZ Theresienstadt, ich hatte noch nie etwas darüber gehört“, sagt Rahma Mohamed (17). So ging es auch den anderen Teilnehmerinnen des Projekts. „Die meisten kennen Auschwitz, aber das KZ Theresienstadt wird selten in der Schule behandelt“, sagt Benafsha Mirya Zarifi (18). Erst durch ihre Philosophielehrerin Ketevan Fankhänel erfuhren sie mehr von dem Sammel- und Durchgangslager mit 140.000 Inhaftierten, von denen 32.000 direkt dort starben und 90.000 weiter deportiert wurden, in sogenannte Vernichtungslager wie das Konzentrationslager Auschwitz. Nur 4000 davon überlebten.
KZ Theresienstadt – das angebliche Vorzeigelager war ein Ort des Grauens
„Im Philosophieunterricht hatten wir uns mit der Frage befasst, was das Böse ist und wie man Böse und Gut differenziert. Dabei kamen wir auch auf das KZ Theresienstadt“, sagt Benafsha. Es wurde von den Nationalsozialisten als eine Art Vorzeigelager propagiert. Dort waren viele Musiker, Komponisten, Autoren oder Maler inhaftiert. Zusätzlich zur körperlich schweren Arbeit im Lager übten viele trotzdem ihre künstlerischen Fähigkeiten aus. Die SS nutzte das für ihre Zwecke aus, erlaubte Theater- und Kabarettvorstellungen oder Aufführungen etwa von der dort entstandenen Kinderoper „Brundibar“. „Die Nazis drehten auch einen Propagandafilm über das KZ, mit dem sie demonstrieren wollten, wie gut die Juden es dort angeblich hatten“, sagt Rebecca-Sophie Espenhahn (18).
Über die Grausamkeiten in diesem vermeintlich vorbildlichen Lager müssen viel mehr Menschen etwas erfahren, fanden die Schülerinnen und folgten deshalb freiwillig dem Impuls ihrer Philosophielehrerin, ein Stück dazu zu inszenieren. „Zunächst haben wir Fakten gesammelt, um uns selbst ein Bild über die Ereignisse zu machen“, sagt Rahma. Dann überlegten die Schülerinnen, wie sie die Geschehnisse auf die Bühne bringen könnten. „Wir wollten nicht einfach etwas vorspielen, wir wollten das Publikum emotional erreichen und ansprechen“, sagt Rebecca. Schließlich kamen sie auf die Idee, ein Rollenspiel zu entwickeln, „damit konnten wir die Kontraste besser darstellen“, sagt Rahma.
So stehen sich auf der Bühne eine NS-Soldatin (in schwarzer Kleidung) und ein Häftling (in heller Kleidung) gegenüber. Zudem werden die Schicksale dreier damals inhaftierter Künstler vorgetragen. Die Zuschauer lernen den Dirigenten und Pianisten Victor Ullmann, den Komponisten Pavel Hass und die Autorin, Musikerin und Krankenschwester Ilse Weber kennen. Aus einem ihrer Lieder stammt der Titel des Stücks „Ich wandre durch Theresienstadt“, der ihre Trauer über die Haft einfängt. Alle drei wurden 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Die Schicksale dreier Künstler werden eindringlich dargestellt
Zu ihren Wortbeiträgen ließen die Schülerinnen gezielt Videofilmen und Musik ablaufen. So spricht Schülerin Malak Ibrahim in ihrer Rolle als NS-Soldatin mit Lob über das Lager Theresienstadt als „einem Geschenk des Führers an die Juden“. Dazu sind auf einer Leinwand Ausschnitte aus einem NS-Propagandafilm mit idyllisch anmutenden Außenaufnahmen des Lagers zu sehen. Doch die von Schülerin Rebecca Espenhahn dargestellte KZ-Insassin kommentiert die blumigen Aussagen der NS-Vertreterin mit den brutalen Fakten der Realität: „Theresienstadt sollte zeigen, wie gut es die Juden dort haben, aber in Wirklichkeit war es ein Vorzimmer von Auschwitz“, sagt sie. Und im Hintergrund werden Bilder etwa von Menschen vor Gaskammern gezeigt.
„Theresienstadt sollte zeigen, wie gut es die Juden dort haben, aber in Wirklichkeit war es ein Vorzimmer von Auschwitz“
Auch die Künstlerbiografien werden mit Bild und Musik untermalt. Auf diese Weise kommen sie dem Publikum als Menschen sehr nahe. Etwa die Liedermacherin und Autorin Ilse Weber. „Sie ist mit ihrem Mann und ihrem jüngsten Sohn nach Theresienstadt deportiert worden. Sie kümmerte sich dort in der Krankenstube um die Kinder, und schrieb Lieder, die sie ihnen vorsang“ sagt Rahma, die auf der Bühne Ilse Webers Stimme ist. In Auszügen berichtet sie über Ilses Webers Leben. „Ich lese unter anderem Auszüge aus ihrem ‚Brief an mein Kind‘ vor“, sagt Rahma. Gemeint sei der älteste Sohn von Ilse Weber, der als Achtjähriger von seinen Eltern mit einem Kindertransport nach England und von dort weiter nach Schweden geschickt worden war. „Ilse Weber schreibt über ihren Kummer, aber auch über die Hoffnung, dass ihr Sohn in Sicherheit ist, das ist sehr bewegend“, sagt Rahma. Das von Ilse Weber komponierte Lied „Wiegala“ ist sogar live zu hören, es wird von Schülerin Tuana Ece Uzun gesungen und von Schülerin Zaim Sejdijevic auf der Gitarre begleitet.
Ein Weckruf besonders in den Zeiten von wachsendem Antisemitismus
Ein Jahr hat die Gruppe an dem Stück gearbeitet, bekam bei der Umsetzung auch Unterstützung von Theaterlehrer Wido Röttger und von Lehrerin Miriam Liegner für die Technik. „Wenn wir zwischendurch mal zweifelten, ob wir das alles hinkriegen, hat der Optimismus unserer Lehrerin Frau Fankhänel uns weitergeholfen“, sagt Zoha Butt (20). Die beiden Aufführungen des multimedialen Stückes vor Oberstufenschülerinnen und -schülern waren erfolgreich. „Das Feedback auf das Stück war positiv“, sagt Malak Ibrahim (18). Und auch sie selbst habe viel dazu gelernt.
„Gerade in diesen Zeiten mit wachsendem Antisemitismus müssen wir uns mit der Geschichte befassen und auf das Unrecht der Vergangenheit aufmerksam machen, damit es sich nicht wiederholt“, sagt Rebecca. „Wir wissen jetzt mehr über die Zeit und können auch anderen etwas von dem Wissen weitergeben“, fügt Benafsha hinzu. Dass sie mit ihrem Engagement den Bertinipreis gewinnen würden, hätten sie nicht gedacht, haben sich aber sehr darüber gefreut. „Das war eine schöne Überraschung“, sagt Rahma.
„Wir wissen jetzt mehr über die Zeit und können auch anderen etwas von dem Wissen weitergeben“