Was es bedeutet, auf der Straße zu leben, können sich die wenigsten vorstellen. So ging es auch den Schülerinnen und Schülern der Julius-Leber-Stadtteilschule bis sie sich in der 10.Klasse verstärkt mit dem Thema Obdachlosigkeit befassten. Im Deutschunterricht lasen sie das Buch „Unter Palmen aus Stahl“. Darin schildert Autor Dominik Bloh, wie er als Jugendlicher auf der Straße landete und welche harten Erfahrungen er dort machte. Das hat die Jugendlichen tief bewegt. In anderen Texten in einem Magazin über Obdachlosigkeit lernten sie weitere Lebensgeschichten von Menschen ohne festen Wohnsitz kennen. Mit diesem Wissen änderte sich der Blick der Jugendlichen auf Obdachlose.
„Das Leben auf der Straße, ist sehr schwer, die Menschen müssen ums Überleben kämpfen, sie haben keine warme Kleidung, keine warme Mahlzeit und werden von den Mitmenschen nicht gesehen und ausgegrenzt, das macht mich traurig“, sagt Schülerin Farida Abdou (16). Die meisten könnten nichts dafür, dass sie obdachlos seien, keiner lebe freiwillig auf der Straße, fügt sie hinzu. Die Jugendlichen waren sich einig, dass sie etwas tun und Betroffenen ihre Hilfe anbieten wollten. Sie traten in Kontakt mit der Hilfsorganisation Go Banyo, bei der Ehrenamtliche mit einem Duschbus an verschiedenen Orten in Hamburg fahren, um wohnungslosen Menschen das kostenlose Duschen zu ermöglichen. Der Bus enthält drei voll ausgestattete Badezimmer, es gibt eine Kleiderausgabe, Hygieneprodukte und etwas Privatsphäre, die beim Leben auf der Straße ansonsten immer fehlt.
„Menschen müssen ums Überleben kämpfen, sie haben keine warme Kleidung, keine warme Mahlzeit und werden von den Mitmenschen nicht gesehen und ausgegrenzt, das macht mich traurig“
Um mehr über diese Arbeit zu erfahren, luden die Schüler Go-Banyo-Mitbegründerin Gülay Ulas zu einer Diskussionsrunde in die Schule ein. Sie wollten von ihr auch wissen, wie sie selbst aktiv helfen können und erfuhren, dass gerade im Winter der Bedarf an Thermosocken sehr hoch sei. „Uns war sofort klar, dass auch Obdachlose warme Füße haben wollen und so haben wir eine Spendenaktion gestartet“, sagt Melissa Matango (17). Daran beteiligten sich nicht nur die Zehntklässler, sondern auch die Schüler*innen-Vertretung. Über Flyer und E-Mails riefen sie alle Jahrgangsstufen zu einer Spende von drei Euro pro Thermosocke auf. Insgesamt kamen 3000 Euro zusammen. „Auch das Unternehmen, das die Socken liefert, hat Socken gespendet und uns einen Rabatt für den Kauf von weiteren Socken gewährt“, sagt Fatemeh Hassanzadeh (16 ). Schließlich konnten die Jugendlichen etwas mehr als 1000 Thermosocken an Go Banyo übergeben.
Doch das war nicht die einzige Hilfsaktion. Schülerinnen und Schüler des 10.Jahrgangs engagierten sich auch an vier Sonntagen im November und Dezember 2023 im Sonnenscheincafé. Jeden Sonntagnachmittag öffnet das Projekt, das von Ehrenamtlichen betrieben wird, in der Bar Mathilde in Ottensen die Türen und bietet dort Menschen ohne festen Wohnsitz Kaffee, Kuchen, Sandwiches und Gespräche an. „Wir haben Kuchen gebacken, ihn im Sonnenscheincafé ausgegeben und uns mit den Gästen unterhalten, viele waren dankbar und haben sich gefreut“, sagt Soley Lucas (16). Nicht nur dort traten sie mit obdachlosen Menschen in Kontakt. Auch bei der Aufgabe, eine Hinz&Kunz-Ausgabe zu kaufen und mit dem Verkäufer ins Gespräch zu kommen, lernten die Jugendlichen Menschen ohne festen Wohnsitz kennen, die zum Teil offen über ihre Situation sprachen.
„Die ganzen Aktionen haben meinen Blick auf die Menschen, die auf der Straße leben, geändert. Früher bin ich eher an ihnen vorbei gegangen, heute sage ich ‚Hallo‘ oder führe sogar ein kurzes Gespräch mit ihnen, weil sie Menschen sind wie wir und nicht wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden sollten“, sagt Julia Spanagel (16). Und Fatemeh fügt hinzu: „Ich achte jetzt mehr auf die Menschen und ignoriere sie nicht, es muss auch nicht viel sein, manchmal reicht schon ein Lächeln.“
Für die Zukunft wünschen sie und ihre Mitschülerinnen sich, dass Menschen ohne festen Wohnsitz mehr Chancen bekommen, ihre Situation zu verändern. Ihre Vorschläge dazu haben die Zehntklässler auch in Briefen an den Ersten Bürgermeister von Hamburg Peter Tschentscher geschrieben. In seiner Antwort bedankt sich Peter Tschentscher für das Engagement und zeigt auf, was die Stadt Hamburg bereits tut und wo es Probleme gibt. Klar wird, dass die Unterstützung von engagierten Hamburgerinnen und Hamburgern auch weiter nötig ist. Und darin sind sich die sieben Schülerinnen einig, die den Bertinipreis für ihre besonderes Engagement innerhalb des zehnten Jahrgangs erhalten: Sie wollen auch weiter auf die schwierige Lebenssituation von Obdachlosen aufmerksam machen.
„Ich achte jetzt mehr auf die Menschen und ignoriere sie nicht, es muss auch nicht viel sein, manchmal reicht schon ein Lächeln.“