Es war der Höhepunkt eines Projekts, das schon seit längerem am Helmut-Schmidt-Gymnasium läuft: Eine vierzehntägige Reise nach Israel, die 30 Schülerinnen und Schüler des Wilhelmsburger Gymnasiums im Oktober 2019 unternahmen. Dort setzten sie sich nicht nur mit dem Holocaust auseinander und trafen Zeitzeugen, sondern begegneten auch israelischen Schülerinnen und Schülern, mit denen sie gemeinsam ein Theaterstück entwickelten.
Unter der Leitung von Theaterlehrer Hédi Bouden waren der Reise bereits vielbeachtete Einzelprojekte in Wilhelmsburg vorausgegangen, wie etwa Lesungen, Theaterstücke oder Poetry Nights. In ihnen befassten sich die Jugendlichen, die großenteils einen Zuwanderungshintergrund haben und Muslime sind, mit Fragen der Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft, der eigenen Identität sowie mit der Verarbeitung des Holocausts und der Verantwortung, die daraus für eine Gesellschaft entsteht.
Diese Projekte bereiteten thematisch auch auf die Reise nach Israel vor. „Das Ziel war es, die Gesellschaft für den gegenwärtigen Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus zu sensibilisieren und nach den Verbrechen der NS-Zeit an einer gemeinsamen Gedenkkultur zu arbeiten“, erklärt Ömer Akif Kilictas (16). Und so standen unter anderem der Besuch des Gedenkzentrums Yad Vashem in Jerusalem auf dem Programm sowie in Tel Aviv die Begegnung und gemeinsame Theaterarbeit mit israelischen Schülerinnen und Schülern aus einem Kibbuz in Sderot, das drei Kilometer vom Gazastreifen entfernt liegt.
Zum ersten Kennenlernen hatten sich die Wilhelmsburger Jugendlichen Videoszenen angeschaut, die die israelischen Jugendlichen über sich und ihre Geschichte gedreht und ihnen geschickt hatten. „Wir hatten ja vorher noch nie Kontakt zu israelischen Jugendlichen, wir haben dann gesehen, dass es außer der Sprache keine großen Unterschiede gibt. Sie sind Jugendliche genauso wie wir“, sagt Maryam Winter (18).
Doch als die Hamburger in Israel ankamen, war für sie doch erst einmal vieles neu. „Auf dem Weg vom Flughafen kamen wir an einem Viertel mit ultraorthodoxen Juden vorbei, dann sahen wir Viertel mit Hotels, Bars, Imbissen, die europäisch wirkten, und in der Altstadt von Sderot trafen wir auf Juden, Christen, Muslime, die eher nebeneinander als miteinander leben. Das waren in sehr kurzer Zeit sehr viele neue Eindrücke“, berichtet Maryam. „Auch das Militär ist überall präsent“, ergänzt Ömer. Um die Eindrücke zu verarbeiten, hatten die Schülerinnen und Schüler sich abends zu Reflexionsrunden auf dem Dach des Hostels getroffen. Durch die Gespräche und Erlebnisse wuchsen die 16- bis 20-Jährigen auch als Gruppe zusammen.
„Wir kommen ja teilweise aus dem arabischen Raum, sprechen aber alle deutsch, das fiel auf“
Im Laufe des Aufenthalts erlebten sie viele freundliche und interessierte Begegnungen mit Israelis. „Wir kommen ja teilweise aus dem arabischen Raum, sprechen aber alle deutsch, das fiel auf“, schildert Maryam. Wenn sie darauf angesprochen wurden, wo sie herkommen und sie ihre Pläne erklärten, zeigten sich viele begeistert. „Nach Gesprächen mit Juden und Arabern bekamen wir aber auch etwas von den Spannungen im Land mit“, sagt Ömer.
Ein besonderer Termin war für die Jugendlichen der Besuch des Holocaust-Gedenkzentrums Yad Vashem. Sie besichtigten das Zentrum mit seinen Erinnerungshallen und trafen eine Zeitzeugin, die von der Verfolgung und Ermordung der Juden durch die Nazis berichtete. „Wir kannten das vorher nur aus Büchern, aber direkt zu hören, wie sie gestorben sind, das war sehr berührend und hat zum Nachdenken angeregt“, bekennt Ömer. Mit einem Fußmarsch zum Ölberg wollten die Jugendlichen sich auf einen Perspektivwechsel einlassen: Von dort oben wollten sie mit etwas Distanz auf die in ein jüdisches, armenisches, christliches und muslimisches Viertel unterteilte Stadt schauen. Doch fast oben angekommen, erreichte sie die Nachricht von dem Anschlag auf die Synagoge in Halle. „Das hat uns erschüttert“, sagt Maryam. Die Jugendlichen, die sich gerade für die Völkerverständigung engagierten, fühlten sich im ersten Moment demotiviert. „Wir dachten, das führt ja zu nichts, was wir hier machen, aber dann hat es uns darin bestärkt weiterzumachen“, berichtet Ömer.
Den zweiten Teil der Reise verbrachten die jungen Hamburgerinnen und Hamburger in Tel Aviv. Dort trafen sie die israelischen Jugendlichen aus Sderot, mit denen sie die Proben für das Theaterstück zum Thema „Was geht mich deine Geschichte an?“ starteten, in dem es um die Frage der Identität und um Toleranz geht. Bei den Proben stellten sich auch Unterschiede zu den Hamburgern heraus. „Weil sie in der Nähe des Gazastreifens leben, von wo aus Bomben auf das benachbarte Israel abgeschossen werden, haben sie in einem Standbild zu Alltagsszenen dargestellt, wie sie sich vor Bomben schützen müssen“, erinnert sich Ömer. Im Gegensatz zu der deutschen Gruppe wollten die israelischen Jugendlichen den Krieg jedoch nicht weiter thematisieren und nicht über den Israel-Palästina-Konflikt reden. Und auch die Form ihres Theaterspiels war eher am klassischen Theater angelehnt. „Wir haben dann aber versucht, Gemeinsamkeiten zu finden“, erklärt Maryam. Und sie schafften es, ein gemeinsames Stück im arabisch-hebräischen Jaffa-Theater in Tel Aviv erfolgreich aufzuführen.
Auch beim Gegenbesuch im Januar 2020 kam es zu einer gemeinsamen Theateraufführung in der Kulturkirche Altona. „Bei ihrem Aufenthalt hier waren die israelischen Jugendlichen wesentlich offener, es waren sehr intensive Tage, wir haben an einer Performance zum Holocaust-Gedenktag und am Theaterstück gearbeitet, aber wir haben auch viel zusammen unternommen und uns besser kennengelernt“, schildert Maryam.
„Was in der NS-Zeit passiert ist, geht jeden etwas an. Daraus können alle lernen, was man tun sollte, damit sich so etwas nicht wiederholt“
Die Reise und der Kontakt zu den israelischen Jugendlichen hat die Schülerinnen und Schüler bereichert. „Es hat meinen Horizont erweitert und ich habe gelernt, wie wichtig ein Austausch ist, um Vorurteile aufzuheben“, fasst Maryam ihre Eindrücke und Erfahrungen zusammen. Und Ömer fügt hinzu, „dass man nie über einen anderen urteilen sollte, ohne sich vorher dessen Geschichte anzuhören.“ Zudem sei es gut, sich mit der deutschen Geschichte auseinanderzusetzen und an die Opfer zu erinnern. „Was in der NS-Zeit passiert ist, geht jeden etwas an. Daraus können alle lernen, was man tun sollte, damit sich so etwas nicht wiederholt“, betont Ömer.
Wie sehr die Jugendlichen aus Hamburg-Wilhelmsburg während der Reise durch Israel gereift sind und wie sie auch scheinbar unlösbare Differenzen innerhalb der Gruppe bewältigen konnten, zeigt der Dokumentarfilm „Why should I care about your history?“, gedreht von Filmemacher Martin Steimann, der die Gruppe auf der Reise begleitet hatte. Der Film soll, sobald es möglich ist, im Abaton gezeigt werden.
Ausführliche Informationen, Fotos und Videos auf der Projekthomepage:
https://why-should-i-care.jimdofree.com/
Download Dokumentation BERTINI WSHIC
Siehe auch Dokumentarfilm: „Kein deutscher Land in Israel 2018“