Welche Erfahrungen machte eine deutsche Jüdin, die den Holocaust überlebt hat und nach einem längeren Aufenthalt in Israel wieder nach Deutschland zurückgekehrt ist? Wie geht ein Sohn mit dem erst spät erworbenen Wissen über die NS-Verbrechen seines Vaters um? Wie erlebt eine junge Frau ihre Eltern, die sich während der NS-Zeit im Widerstand gegen den Faschismus engagiert haben und verhaftet wurden? Unter dem Motto „Familiengeschichten aus der NS-Zeit“ interviewten die Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Klosterschule und des Helmut-Schmidt-Gymnasiums Zeitzeugen und Angehörige der nachfolgenden Generationen. Es entstanden zehn Videos mit sehr persönlichen Einblicken in die Familiengeschichten.
Die Interviews entstanden zur Woche des Gedenkens, die der Bezirk Hamburg-Mitte im vergangenen Mai aus Anlass des 75. Jahrestages des Kriegsendes und der NS-Herrschaft geplant hatte. Und die wegen Corona auf den November 2020 verschoben wurde. „Weil wegen der Pandemie alle Veranstaltungen ausfielen, die Auseinandersetzung mit dem Gedenken aber in irgendeiner Form stattfinden sollte, initiierten wir das Schulprojekt mit Interviews von Zeitzeugen und deren Angehörigen aus verschiedenen Generationen“, sagt Nicole Mattern, Kuratorin der Woche des Gedenkens Hamburg-Mitte und ehrenamtlich Vorsitzende der Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm. Sie kontaktierte Lehrkräfte und Schülerinnen und Schülern an beiden Gymnasien und stieß sofort auf eine große Bereitschaft zum Mitmachen.
Das Gymnasium Klosterschule war mit Schülerinnen und Schülern aus den Jahrgangsstufen 9 bis 12 an dem Projekt beteiligt. „Die Planung war sehr kurzfristig, aber die Schülerinnen und Schüler fanden das Interviewprojekt spannend und wollten sich dem Thema stellen“, berichtet Lehrer Tobias Schlegelmilch. Für die Interviews hatten sich die Schülerinnen und Schüler in Gruppen aufgeteilt, um jeweils eine Gesprächspartnerin bzw. einen Gesprächspartner zu interviewen. Die Videos wurden in der Zentralbibliothek der Bücherhallen Hamburg am Hühnerposten gedreht, weil es dort genug Platz gab, um die Abstandsregeln einzuhalten.
„Zur Vorbereitung hatten wir schon ein paar Informationen über den biografischen Hintergrund der Person und haben daraus die Fragen entwickelt“, sagt Lenya Estherr (16), die mit vier Mitschülerinnen und Mitschülern Ruben Herzberg befragte. Der frühere Schulleiter der Klosterschule ist in Israel geboren, wohin seine Mutter noch rechtzeitig während der NS-Zeit ausgewandert war. Als er 1958 siebenjährig nach Deutschland kam, sah er sich zum ersten Mal mit einer antisemitischen Äußerung konfrontiert. „Wir haben viel Persönliches über seine Familie erfahren. Er sprach über den Onkel, der mit 17 Jahren von den Nazis in Auschwitz ermordet wurde, und von der Lücke, die er in seinem Leben hinterlassen hat“, erzählt Lenya.
Eine ganz andere Erinnerung teilten Luisa Radt (15) und Nikita Petlenko (15) in ihrem Interview mit Daniel Rebstock. Seine Eltern hatten sich schon in jungen Jahren im Widerstand gegen das NS-Regime engagiert und wurden verhaftet. „Das Interview lief sehr gut, wir konnten ihn alles fragen“, erinnert sich Nikita. Überraschend war für sie, als ihnen Daniel Rebstock erzählte, dass in seiner Familie keine Emotionen gezeigt wurden. „Seine Eltern hatten so viel Horror erlebt, dass sie gelernt hatten, ihre Gefühle zu unterdrücken“, sagt Luisa. „Diese Aussagen lassen einen weiterdenken und zeigen, wie sich die Unterdrückung auch nach der NS-Zeit noch auf die ganze Familie auswirkte“, hebt Nikita hervor.
Auch auf eine andere Familie hatte die NS-Zeit im Nachhinein bestürzende Auswirkungen. So erfuhr Ulrich Gantz, der sich ehrenamtlich in der Gedenkstätte KZ Neuengamme engagiert, erst nach dem Tod seines Vaters, dass dieser als Angehöriger einer Einsatzgruppe mutmaßlich an Massenerschießungen im russischen Minsk beteiligt war. „Es war beeindruckend und mutig, wie offen und ehrlich Ulrich Gantz darüber geredet hat, auch wie schwer es für ihn war, zu verarbeiten, dass der Vater ihn über seine Zeit als Polizist in der NS-Zeit belogen hatte, nicht über seine Taten gesprochen hat. Die Botschaft des Gesprächs ist, dass es besonders in diesen Zeiten wichtig ist, offen darüber zu reden, was passiert ist“, fasst Emma zusammen.
„Seine Eltern hatten so viel Horror erlebt, dass sie gelernt hatten, ihre Gefühle zu unterdrücken.“
Die Schülerinnen und Schüler führten nicht nur die Interviews und zeichneten sie mit der Kamera auf, sondern schnitten das Material auch selbständig. „Sie haben sehr viel selbst gemacht und sich sehr empathisch gezeigt“, sagt Lehrer Dennis Becker von der Klosterschule. „Wir sind sehr stolz auf unsere Schülerinnen und Schüler“, ergänzt Kollege Tobias Schlegelmilch.
Im Helmut-Schmidt-Gymnasium Wilhelmsburg waren zehn ehemalige Schülerinnen und Schüler der Theater AG an dem Videoprojekt beteiligt. Sie befragten drei Personen, die jeweils die Perspektive Opfer, Widerstand und Täter aufzeigten. So sprachen die jungen Erwachsenen mit der jüdischen Überlebenden des Holocausts Esther Bejarano, mit Bernhard Esser, dessen Vater und seine Geschwister im Widerstand waren und in der Gestapo-Zentrale an der Stadthausbrücke misshandelt wurden, und mit Maria Holzgrewe, deren Urgroßvater an der Ermordung der Kinder vom Bullenhuser Damm beteiligt war. Auch in diesen Videos gelang es den Jugendlichen, aufrüttelnde Themen ins Zentrum zu stellen. Sie gaben ihren Gesprächspartnern genug Raum, um aus den Erfahrungen der eigenen Familiengeschichte zu erzählen und sie nachvollziehbar zu machen. „Es ist wichtig, etwa die Geschichte von Esther Bejarano kennen zu lernen und zu verbreiten, um den Menschen zu vermitteln, dass man aufpassen muss, damit so ein Unrecht nicht wieder geschieht“, sagt Angelina Schott (19). „Und dass sich Leute nach ihren Erfahrungen mit ihrem eigenen Engagement gegen das Vergessen stemmen, wie etwa Ulrich Gantz, ist auch eine Inspiration für uns junge Leute, sich einzubringen und mit der Erinnerung an gestern auch etwas gegen den Antisemitismus und Rassismus heute zu tun“, betont Hewi Amin (20).