Auf der Bühne steht ein Mädchen im weißen Nachthemd. Es wiegt sich hin und her, während aus dem Off verschiedene Stimmen nacheinander nüchterne Mitteilungen vortragen: »Telegramm: Sohn Bernd, verstorben. erbitten Geburtsurkunde. Anstalt Langenhorn.« – »Telegramm: Hella, verstorben. Erbitten Rücksprache wegen Beerdigung, Anstalt Langenhorn. « – »Telegramm: Helga, Leider verstorben. « – »Telegramm: Inga, verstorben.« Immer mehr Namen, immer kürzer werdende Texte, mit denen Eltern über den Tod Ihres Kindes informiert werden. Es ist der beklemmende Auftakt eines Theaterstücks, das ein grausames Thema zum Inhalt hat: Die systematischen Morde an behinderten Kindern während der NS-Zeit. Der Theaterkurs des 10. Jahrgangs am Gymnasium Klosterschule hat dazu ein dokumentarisches Stück inszeniert und auf die Bühne gebracht.
Die Anregung kam von Schüler Paul Veit (16). »Ich hatte zum Gedenktag der Holocaust-Opfer im Rathaus die szenische Lesung ‚Reichsausschusskinder‘ von Michael Batz gesehen. Darin ging es um die Morde an behinderten Kindern im Kinderkrankenhaus Langenhorn«, berichtet Paul. Ein Thema, das ihn sehr beschäftigte: »Die Euthanasie bei Erwachsenen war mir bekannt, aber über die Kinder-Euthanasie wusste ich wenig«, so der Schüler. Er schlug vor, das Thema im Theaterkurs aufzugreifen. Theaterlehrerin Berit Juppenplatz und die Mitschülerinnen und Mitschüler waren sofort einverstanden. »Auch mich hat es angesprochen, ich fand es unfassbar, dass es das gab und man kaum etwas darüber hört«, sagt Soraya Dräger (16). Als Grundlage ihres Stücks »Reichsausschusskinder« nutzten die Schülerinnen und Schüler das Skript von Michael Batz. »Wir haben uns an seine Dramaturgie gehalten«, sagt Paul. Zudem trafen sie sich mit dem Journalisten Andreas Babel, Autor des Buchs »Kindermorde im Krankenhaus«. Es handelt von den Tötungen im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort. Der Autor unterstützte die Schülergruppe bei der Recherche über das Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten.
1939 begann das NS-Regime mit der systematischen Ermordung von geistig und körperlich behinderten Menschen, die als »unwertes Leben« angesehen wurden. Neben den Erwachsenen waren auch Tausende von Kindern betroffen. Es wurde ein Reichsausschuss gebildet, der »erb- und anlagebedingte schwere Leiden« wissenschaftlich erfassen sollte. »Doch das war ein Scheinausschuss«, weiß Paul. Denn es ging nicht darum, kranke Kinder zu beobachten und zu heilen, sondern herauszufiltern, wer getötet werden sollte. »Die Ärzte meldeten Patientendaten und Gutachter entschieden, ohne die Kinder gesehen zu haben, wer eine besondere Behandlung erhalten sollte«, ergänzt Paul. Die Behandlung für die sogenannten Reichsausschusskinder bestand aus dem Spritzen einer tödlichen Dosis Luminal. »Eine sehr schmerzhafte Prozedur, nach der viele Kinder nicht sofort starben, sondern sich noch bis zu 48 Stunden quälten«, erklärt Paul.
Die Kinder wurden zwischen 1940 und 1945 in sogenannten »Kinderfachabteilungen« in ganz Deutschland getötet. In Hamburg geschah das in den Kinderkrankenhäusern in Langenhorn unter dem Mediziner Friedrich Knigge und in Rothenburgsort unter dem Kinderarzt Wilhelm Bayer. Auch eine Reihe von Assistenzärztinnen und Krankenschwestern waren daran beteiligt.
In ihrem Stück schauen die Schülerinnen und Schüler auf die Täter und lassen sie sprechen. Kein Bühnenbild, kaum Requisiten, die Darsteller sparsam kostümiert, mit Arztkitteln, Schwesterntrachten und die Verwaltungsbeamten in Anzügen – nichts sollte den Zuschauer ablenken: »Wir wollten, dass sie das ganze Ausmaß der Aussagen erfassen«, erläutert Soraya. So verteidigen sich in einer Szene die Ärzte, die nach dem Krieg von der Staatsanwaltschaft wegen Mordes angeklagt, aber nicht verurteilt wurden. »Dr. Knigge hat nachweislich 22 Kinder getötet, wahrscheinlich sogar mehr. Dr. Bayer brachte etwa 200 Kinder um. Die Ärzte waren überzeugt, dass sie nichts Falsches getan haben. Dr. Bayer, der nach dem Krieg als Kinderarzt in Hamburg weiterarbeitete, fand sogar, er habe seine Aufgabe korrekt erfüllt, das Beseitigen unwerten Lebens war für ihn kein Mord«, berichtet Paul.
In weiteren Szenen treten die Krankenschwestern auf. Nur ganz wenige haben nicht mitgemacht. Die meisten beteuerten, dass sie nur ihre Arbeit getan hätten, als sie die Kinder festhielten, damit die Ärzte die Spritzen geben konnten. Ihnen wurde gesagt, es sei rechtlich in Ordnung, was sie täten. Ebenso den Assistenzärztinnen, die die tödlichen Spritzen gaben. Einige waren »komplett überzeugt von ihrem Handeln, andere äußerten Skrupel. Aber alle haben versucht, sich aus ihrer Schuld herauszureden. Auch von ihnen wurde keine verurteilt. Einige Ärztinnen machten nach dem Krieg noch Karriere«, berichtet Paul. In der Szene mit den Eltern der getöteten Kinder stellen die jungen Schauspieler den Schmerz der Angehörigen heraus, denen verheimlicht worden war, dass ihre Kinder nicht an einer Krankheit oder Operation gestorben, sondern ermordet worden waren.
Die Schülerinnen und Schüler arbeiteten in ihrem Stück zum großen Teil mit Originalzitaten, um möglichst authentisch zu sein. »Wir hatten uns auch um Akteneinsicht im Staatsarchiv bemüht, aber es hat fast drei Monate gedauert, bis wir endlich die Erlaubnis erhielten – das war ein Monat vor unserer ersten Aufführung«, sagt Paul. Texte ließen sich dann nicht mehr ins Stück einarbeiten, »aber das Lesen der Akten half einigen, ihre Rollen noch besser zu verkörpern«, berichtet Soraya. Auch wenn die Charaktere unterschiedlich dargestellt wurden, so waren sie doch alle mitschuldig. »Es war unser Ziel zu zeigen, dass nicht nur Einzelne, sondern fast alle mitgemacht haben«, sagt Soraya. Deshalb bauten die Schülerinnen und Schüler auch keinen Helden in ihr Stück ein, also jemanden, der sich widersetzte und mit dem man sich als Zuschauer hätte identifizieren können. »Wir wollten zum ehrlichen Nachdenken darüber anregen, was man selber getan hätte«, erklärt Soraya.
Diese Konzentration auf das Wesentliche macht das Stück so eindringlich und aussagekräftig. Das empfanden auch die Zuschauer bei der Aufführung in der Klosterschule. »Sie waren sehr bewegt, einige hatten rote Augen «, sagt Soraya. Und viele fanden es sehr gut, dass die Schülerinnen und Schüler dieses Thema aufgegriffen haben.