Zwischen 1939 und 1945 ließen die Nationalsozialisten allein im Raum Hamburg etwa eine halbe Million Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten. Menschen aus Russland, Polen oder Frankreich waren größtenteils im KZ Neuengamme interniert und mussten hier wie auch in kleinen und großen Betrieben außerhalb schwer arbeiten. Viele kamen dabei ums Leben, starben infolge von Entkräftung und Unterernährung oder weil sie von den Nazis ermordet wurden. Auf dem russischen Ehrenfriedhof in Bergedorf erinnern heute 652 Gedenksteine an russische Soldaten und Kriegsgefangene.
Elf Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 8 bis 10 an der Stadtteilschule Bergedorf befassten sich in einer Geschichtswerkstatt intensiv mit den Schicksalen russischer Zwangsarbeiter. »Wir hatten schon an dem Projekt ‚Kriegskinder‘ des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. teilgenommen und dafür Kontakte zu Zeitzeugen geknüpft«, berichtet Hannes Jungclaus (13).
Eine weitere Motivation für die Spurensuche war der für 2016/17 ausgeschriebene 25. Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten und der Hamburger Körber-Stiftung mit dem Thema »Gott und die Welt. Religion macht Geschichte«. Er gab den Jugendlichen den Impuls, ihre eigene Forschungsfrage zu entwickeln.
Unter der Fragestellung: »Waren alle Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen während des 2. Weltkriegs in Bergedorf von Gott und der Welt verlassen?« suchten sie nach historischen Quellen und Zeitzeugen. Mit Unterstützung ihrer Tutorin, der ehemaligen Lehrerin Gerda Schmidt, und weiteren Helfern wie der Bibliothekarin der Schulbibliothek Katrin Jürgens trugen sie Informationen aus Büchern und Zeitungsberichten zusammen und befragten Zeitzeugen. Sie informierten sich in der KZ Gedenkstätte Neuengamme, insbesondere in Gesprächen mit Pastor Hanno Billerbeck von der Gedenkstätte, und sie sprachen mit Pastorin Doris Spinger aus der Kirchengemeinde St. Johannis in Neuengamme. Zudem konnten sie in der Gedenkstätte Neuengamme Sterbeurkunden von Zwangsarbeitern einsehen. »Mit den Biografien von drei Zwangsarbeitern haben wir uns intensiver beschäftigt«, erläutert Lucy Keil (16).
Um Näheres über die Situation der Zwangsarbeiter zu erfahren, kontaktierten die Schülerinnen und Schüler die heute noch existierende Firma Bentin, für die nachweislich 40 Zwangsarbeiter gearbeitet hatten, darunter auch die beiden an Unterernährung verstorbenen Männer. »Doch das Gespräch mit dem Geschäftsführer war nicht so ergiebig«, erzählt Lucy. Die Firma ist inzwischen verkauft worden, einen Kontakt zu dem früheren Besitzer Emil Bentin wollte der Geschäftsführer nicht herstellen. Die Schülerinnen und Schüler fühlten sich abgewimmelt. »Inzwischen ist ein Brief von Julia Bentin, der Tochter des früheren Besitzers, eingetroffen, die unsere Recherche kritisiert, sich aber mit uns treffen will«, sagt Lucy. Die Schülerinnen und Schüler trafen andere Zeitzeugen, etwa Angehörige aus kleineren Familienbetrieben, die Zwangsarbeiter beschäftigt hatten. »Meist hatten sie dort bessere Arbeitsbedingungen, wurden besser mit Essen versorgt, manche sogar wie ein Familienmitglied aufgenommen«, berichtet Lara Jahncke (15). Aber auch dort wurde ihre Arbeitskraft ausgenutzt.
Ihre Ergebnisse bündelten die 13- bis 16-jährigen Schülerinnen und Schüler in einer Dokumentation, in der die Situation von Zwangsarbeitern aus Polen, Frankreich, Belgien und der Sowjetunion während der NSZeit, insbesondere in Bergedorf, dargestellt wird. Sie gingen der Frage nach, wie sich die Kirche in der NS-Zeit verhielt, und stellten fest, dass es nur sehr wenige Pastoren gab, die sich gegen die Nazis stellten. Einer dieser Pastoren war Fritz Schade aus Hamburg-Ochsenwerder. »Er half den Zwangsarbeitern, wo er nur konnte«, berichtet Hannes. Die Schülerinnen und Schüler hatten mit seinem Sohn gesprochen. In einem weiteren Kapitel stellen die Jugendlichen die Biografien der drei russischen Zwangsarbeiter vor, deren Namen sie auf den Sterbeurkunden und auf den Grabsteinen des Russischen Ehrenfriedhofs gefunden hatten. Sie alle starben jung und nach nur kurzer Zeit in der Gefangenschaft. Einer von ihnen hatte im KZ gearbeitet und starb laut Totenschein an Herz-Kreislauf-Versagen. Die beiden anderen, die für das Betonwerk Bentin in Lohbrügge gearbeitet hatten, starben an Unterernährung.
In ihrer Dokumentation kommen die Schülerinnen und Schüler zu dem Ergebnis, dass die Zwangsarbeiter sich »von Gott und der Welt verlassen« fühlen mussten. Nachdem sie ihre Ergebnisse beim Wettbewerb eingereicht hatten und Hamburger Landessieger geworden waren, war ihre Arbeit noch nicht beendet. »Wir wollten das Unrecht an den Zwangsarbeitern auch in die Öffentlichkeit bringen und möglichst viele Menschen darauf aufmerksam machen«, sagt Marla Miller (16).
Und so trugen die Schülerinnen und Schüler am 8. Mai 2017, dem Gedenktag anlässlich des Endes des 2. Weltkrieges, Texte über Zwangsarbeiter auf dem Ohlsdorfer Friedhof vor und führten russische Austauschschülerinnen und -schüler über den Russischen Soldatenfriedhof in Bergedorf. Sie erarbeiteten szenische Lesungen, in denen sie Zwangsarbeiter und deren »Chefs« zu Wort kommen ließen. »Wir wollten damit zur Diskussion darüber anregen, wo Schuld anfängt und aufhört«, erklärt Emilia Waterstradt (15). Die Schülerinnen und Schüler trugen ihre Lesungen während der »Woche des Gedenkens« in Bergedorf im November 2017 an verschiedenen Orten vor. Und sie erinnerten am Volkstrauertag auf dem Russischen Soldatenfriedhof mit szenischen Lesungen aus den Biografien an die Zwangsarbeiter.