Kennenlernen auf Augenhöhe

BERTINI-Preis 2017 · Helmut-Schmidt-Gymnasium

Vier Absolventen des Helmut-Schmidt-Gymnasiums in Wilhelmsburg organisieren monatliche Gesprächsrunden für den interreligiösen, politischen und kulturellen Austausch. Sie fördern damit Toleranz und Weltoffenheit von Lernenden und Lehrenden an ihrer ehemaligen Schule.

Sie reden über die Radikalisierung von Jugendlichen, über die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, über Rassismus, Freundschaft oder Identität. einmal im Monat geht es bei den »Gesprächsrunden für interreligiösen Austausch«, kurz: GIRA, um religiöse, politische oder kulturelle Themen. Dann sind interessierte Schülerinnen und Schüler, deren Freunde sowie interessierte Lehrkräfte des Helmut-Schmidt-Gymnasiums eingeladen, gemeinsam mit dem GIRA-Team zu diskutieren.

»Es geht dabei um das Kennenlernen von unterschiedlichen Weltanschauungen und Meinungen zu aktuellen Themen«, erklärt Nurhayat Tüncer. Die 21-Jährige ist Absolventin des Helmut-Schmidt-Gymnasiums und studiert derzeit Architektur. Sie gehört zum GIRA-Team ebenso wie ihre ehemaligen Mitschülerinnen Besa Bekteshi und Beyza Yilmaz, beide Studentinnen der Sonderpädagogik, und der ehemalige Mitschüler Ahmet Kuyucu, der Produktionstechnik und Management studiert. »Unser Ziel ist es, mit den Gesprächen Akzeptanz und Toleranz untereinander zu fördern«, sagt Nurhayat, »denn nur wer sich kennenlernt und etwas über den anderen weiß, kann ihm ohne Vorurteile begegnen.« Jugendliche wie Erwachsene sollen »für die Vielfalt der verschiedenen Ansichten sensibilisiert werden, aber auch Gemeinsamkeiten erkennen und Misstrauen ausräumen«, ergänzt Besa Bekteshi (21).

Die Idee für den Gedanken- und Meinungsaustausch entwickelte sich unter den jungen Leuten schon während ihrer Schulzeit am Helmut-Schmidt-Gymnasium. »2014 gab es so viele Jugendliche, die nach Syrien gingen, um sich dem IS anzuschließen, es waren auch Jugendliche aus dem Stadtteil Wilhelmsburg dabei«, berichtet Besa. Das bestürzte sie und ihre Mitschülerinnen. »Wir wollten nicht einfach zusehen, wie Jugendliche verführt werden zu einer Radikalität, die nichts mit unserer Religion zu tun hat«, sagt Nurhayat, die Muslima ist. Zu dem Bedürfnis, etwas dagegen tun zu müssen, kam der Wunsch von Schulleiter Volker Clasing, ein Angebot von Schülern für Schüler zu entwickeln, um die Jugendlichen besser bei dem zu erreichen, was sie umtreibt. Über die Religionslehrerin Beatrix Teucher und den Politiklehrer Mehmet Ali Nacarli wurde diese Idee an die Vier herangetragen. Das gab den Anstoß. »Wir haben konkret überlegt, was wir machen können, und entschieden uns für die Form der Gesprächsrunde«, berichtet Besa. Die erste GIRA-Veranstaltung fand 2016 statt, als die vier Schülerinnen und Schüler ihr Abitur schon in der Tasche hatten. Ihr Vorhaben war ihnen aber so wichtig, dass sie ihrer Schule treu blieben und seither regelmäßig monatliche GIRA-Treffen anbieten.


Das Gespräch suchen: in der Gesprächsrunde für interreligiösen Austausch begegnen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer respektvoll auf Augenhöhe
Das Gespräch suchen: in der Gesprächsrunde für interreligiösen Austausch begegnen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer respektvoll auf Augenhöhe

Die Runden finden im Bildungszentrum »Tor zur Welt« statt. Bei Kaffee und Kuchen werden an einem Nachmittag im Monat zwei Stunden lang Informationen und Ansichten ausgetauscht und diskutiert. »Wir sind sehr glücklich, dass uns die Leiterin Theda von Kalben die Räume des dortigen Inselcafés dafür zur Verfügung stellt«, sagt Nurhayat. Um die Veranstaltungen vorzubereiten, trifft sich das Team ein bis zwei Wochen vorher und plant das nächste Thema. »Dabei handelt es sich um aktuelle Fragestellungen, die das gesellschaftliche Miteinander in religiöser, kultureller oder politischer Hinsicht betreffen«, erklärt Nurhayat. Eingebunden in die Vorbereitung ist auch der Islam- und Politikwissenschaftler Nadim Gleitsmann, der als Experte bei vielen Themen eine kurze Einführung geben kann. »Zum Ablauf unserer Veranstaltungen gehören neben dem Input auch Gruppenarbeit oder Rollenspiele und abschließende Diskussionsrunden. Jeder soll sich eingeladen fühlen, etwas beizutragen, die Begegnungen sollen auf Augenhöhe stattfinden«, erläutert Nurhayat.

Das kommt vor allem bei den Schülerinnen und Schülern gut an. »Sie finden es gut, dass sie in den Runden gleichberechtigt mit den Lehrkräften sind«, stellt Besa fest. Sie und ihre Team-Kollegen fungieren bei den Gesprächen als Moderatoren und schaffen eine Atmosphäre, bei der »angstfrei, ohne Vorurteile und mit Respekt vor den anderen Fragen gestellt werden können, die man sich sonst vielleicht nicht zu fragen traut«, sagt Besa. Und die zu direkten Erkenntnissen führen. So fragte eine Lehrerin beispielsweise, warum muslimische Frauen Kopftuch tragen, und muslimische Teilnehmerinnen berichteten von ihren eigenen Beweggründen.


Auch die Themenvielfalt ist dem GIRA-Team wichtig. »Weil viele muslimische Schüler an der Schule sind, wollten wir auch etwas zu den weniger stark vertretenen Religionen, dem Christentum und dem Judentum, anbieten «, erklärt Nurhayat. So haben sie als sogenannte »Specials« zusätzliche Veranstaltungen etwa zu Weihnachten, zum jüdischen Pessach-Fest und zum Fastenbrechen am Ende des Fastenmonats Ramadan organisiert. »Bei den Treffen zum Advent und zu Weihnachten erzählten die Teilnehmer von ihren persönlichen Feiern, und es war schön zu erfahren, wie die religiösen Feiertage tatsächlich gelebt werden«, erzählt Nurhayat. Die Runden seien immer wieder aufschlussreich, »man hat oft einen ‚Aha-Effekt‘, weil man immer wieder von Dingen erfährt, die man vorher so nicht kannte«, berichtet Besa. Und auch Nurhayat sind die Gesprächsrunden ans Herz gewachsen. »Die Themen gehen uns nah, weil sie uns selbst angehen, und es macht auch einfach Spaß«, betont sie. Für die Schülerinnen und Schüler, da sind sich beide einig, seien diese Runden ebenfalls ertragreich. »Sie können sich politisch informieren, sich mit aktuellen Themen auseinandersetzen und sie lernen, es auch mal auszuhalten, wenn es andere Meinungen gibt«, erläutert die angehende Pädagogin Besa.


Der Erfolg spricht für sich. Die Veranstaltungen sind gut besucht. »Es kommen mindestens 15 Besucher, wir hatten auch schon 40 Teilnehmer«, berichtet Nurhayat. Auch für die Fortsetzung der Veranstaltungen ist gesorgt, wenn die Studierenden berufstätig werden und vielleicht weniger Zeit für das Engagement haben sollten. Seit vergangenem Jahr ist das GIRA-Projekt an das Profil Religion und PGW (Politik/Gesellschaft/Wirtschaft) angebunden, Schülerinnen und Schüler des Profils können sich bei GIRA engagieren. Doch solange sie es zeitlich noch schaffen, wollen die vier Studentinnen und Studenten weitermachen.


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