Den Gesichtern einen Namen geben

BERTINI-Preis 2022 · Helmut-Schmidt-Gymnasium

Im November 2021 organisierten 16 Jugendliche der Theater-AG des Helmut-Schmidt-Gymnasiums mit weiteren engagierten Jugendgruppen zwei Gedenkrundgänge im Stadtteil St. Georg. In multimedialen Performances erinnerten die Jugendlichen nicht nur an die Nazi-Verbrechen, sondern riefen auch zum Engagement gegen Diskriminierung und Rassismus in der Gegenwart auf.

Die Theater-AG arbeitete mit Monologen, Aufrufen, Gedichten und Performances, um die Fakten künstlerisch umzusetzen
Die Theater-AG arbeitete mit Monologen, Aufrufen, Gedichten und Performances, um die Fakten künstlerisch umzusetzen Jonas Walzberg

Sie gingen für ein einzigartiges Gedenkprojekt auf die Straße – 16 Schüler*innen der Theater-AG des Helmut-Schmidt-Gymnasiums aus Wilhelmsburg. Am 2. und 7. November 2021 führten sie gemeinsam mit weiteren engagierten Jugendlichen durch den Stadtteil St. Georg. Dabei projizierten sie unter anderem Gesichter von Holocaust-Opfern an Hauswände, verlasen Namen von deportierten jüdischen Bewohnern des Stadtteils, setzten sich in szenischen Elementen mit der Unmenschlichkeit während der NS-Zeit auseinander. „Wir wollten Geschichte lebendig werden lassen und Empathie mit den verfolgten und ermordeten Menschen wecken“, sagt Yasemin Rahimi.

In der Theater-AG hatten sie und ihre Mitschüler*innen des 11. Jahrgangs sich mit Antisemitismus und Rassismus damals und heute auseinandergesetzt. Sie trugen Fakten zusammen über das jüdische Leben in Hamburg und seine Zerstörung durch die Nazis. Wie etwa die Verwüstung der Bornplatz-Synagoge in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 und die Ermordung des Rabbiners Joseph Zwi Carlebach und seiner Familie 1942. Die Jugendlichen  recherchierten die Biografien zu NS-Opfern, zu deren Gedenken in St. Georg Stolpersteine verlegt wurden. Und sie befassten sich mit der Ermordung der 20 Kinder am Bullenhuser Damm. Um medizinische Experimente an ihnen zu vertuschen, erhängten SS-Männer die Kinder, ihre Betreuer und vier Kriegsgefangene im April 1945 im Gebäude am Bullenhuser Damm, einem Nebenlager des KZ Neuengamme. Die Schüler*innen blickten jedoch nicht nur in die Vergangenheit, sondern thematisierten auch die rechtsextremistischen Mordanschläge von 2019 in Halle und 2020 in Hanau und der NSU.


„Jeder sollte sich engagieren, denn egal, woher man kommt, Unrecht und Menschenverachtung sind Dinge, die uns alle betreffen.“

Emirhan Hosgör, Schüler des Helmut- Schmidt-Gymnasiums


In der Theater-AG hatten sich die Schüler*innen des des Helmut-Schmidt-Gymnasiums mit Antisemitismus und Rassismus damals und heute auseinandergesetzt
In der Theater-AG hatten sich die Schüler*innen des des Helmut-Schmidt-Gymnasiums mit Antisemitismus und Rassismus damals und heute auseinandergesetzt Jonas Walzberg

Die Perfomances der Theater-AG zeigen, dass die Menschen nicht nur Opfer waren, sondern Menschen wie wir alle
Die Perfomances der Theater-AG zeigen, dass die Menschen nicht nur Opfer waren, sondern Menschen wie wir alle Jonas Walzberg
Die Schüler*innen blickten nicht nur in die Vergangenheit, sondern thematisierten auch die rechtsextremistischen Mordanschläge in Halle und in Hanau sowie der NSU
Die Schüler*innen blickten nicht nur in die Vergangenheit, sondern thematisierten auch die rechtsextremistischen Mordanschläge in Halle und in Hanau sowie der NSU Jonas Walzberg

Aus den einzelnen Geschehnissen entwickelten die Jugendlichen gemeinsam mit Theaterlehrer Hédi Bouden ein Konzept zu einem multimedialen Gedenkrundgang. Ein Hauptbestandteil war dabei die Arbeit mit Lichtprojektionen. Unterstützung bekamen die Jugendlichen dabei von  J.E.W.S. – Jews Engaged With Society, einer Initiative europäischer Juden, die 2020 die Kampagne „Faces for the Names“ gegründet hat. In Anlehnung daran wollten die Schüler*innen auf dem Rundgang Gesichter der verfolgten Menschen, die einst im Stadtteil gelebt hatten, an die Hauswände projizieren. „Wir wollten sichtbar machen, dass diese Menschen hier einmal zu Hause waren“, sagt Yasemin. Und weil sie den Menschen nicht nur Gesichter sondern auch Stimmen gaben, wurde aus ihrer Aktion das Projekt „Faces und Voices for the Names.“

Um die verschiedenen Facetten des Rundgangs in angemessener Form zu präsentieren, griffen die Jugendlichen auf weitere Stilmittel zurück. „Wir haben mit Monologen, Aufrufen, Gedichten und Performances gearbeitet, um die Fakten künstlerisch umzusetzen“, sagt Schülerin Ajla Omaj. So entstand etwa ein bewegender Monolog zu den Verbrechen an den Kindern vom Bullenhuser Damm: „Wann hören wir auf Mensch zu sein?“ fragt Darstellerin Angelina Schott in ihrem Monolog und sagt weiter: „Wenn wir unser Mitgefühl verlieren? Wenn wir andere erniedrigen? (..) Wenn wir Kinder verletzen? (…) Sie endet mit dem Fazit: „Wenn wir es ertragen, Kinder leiden zu sehen, dann sind wir keine Menschen mehr!“


Am 2. November starteten die Jugendlichen ihren ersten multimedialen Rundgang am Hansaplatz in St. Georg. Dort wie an den weiteren Stationen ihrer anderthalbstündigen Route, etwa vor der Domkirche St. Marien und an der Langen Reihe, zeigten sie ihre von Texten, Musik und Lichtbildprojektionen begleiteten Performances. Neben den Schüler*innen der Theater-AG beteiligten sich weitere Jugendliche aus Wilhelmsburg, Allermöhe und St. Georg-Borgfelde sowie dem Gymnasium Klosterschule. Viele von ihnen engagieren sich in Partnerschaften für Demokratie im Rahmen des bundesweiten Projektes Demokratie leben!

Als Vertreter der Religionen kamen zudem Landesrabbiner Schlomo Bistritzky und Özlem Nas vom Schura-Rat Islamischer Gemeinschaften in Hamburg mit eigenen Beiträgen zu Wort. Auch Terry Swartzberg, Vorstandsvorsitzender von J.E.W.S – Jews Engaged With Society e.V. marschierte mit und zeigte sich beeindruckt von den Lichtprojektionen, mit denen die einstigen Wohnorte der deportieren Menschen erleuchtet wurden. „Sie zeigen, dass die Menschen nicht nur Opfer waren, sondern Menschen wie wir alle“, sagte Swartzberg.

Der zweite Rundgang am 7.11. begann auf dem Schulhof des Gymnasiums Klosterschule.  Auf diesem etwa einstündigen Gedenkgang durch St. Georg wurden auch Biografien von anderen Ausgeschlossenen der damaligen Gesellschaft eingebunden – neben Juden etwa Sinti und Roma sowie Menschen mit dunkler Hautfarbe. Dazu thematisierten die Jugendlichen die Bedeutung des Widerstandes damals und heute. Trotz des sehr schlechten Wetters waren beide Gedenkrundgänge gut besucht. „Das Visuelle hat die Menschen angezogen“, sagt Ajla. Immer mehr Interessierte waren stehen geblieben, hatten Fragen gestellt und sich dem Rundgang angeschlossen. 

„Es waren ja historische Orte, an denen wir den Opfern ein Gesicht und eine Stimme gegeben haben und mit diesen künstlerischen Mitteln konnten die Menschen das verstehen“ sagt Schüler Emirhan Hosgör. Und es war gleichzeitig eine Mahnung sich auch heute gegen jede Form des Antisemitismus und Rassismus zu wenden. „Wir müssen das, was wir gelernt haben, weitergeben, es ist wichtig, sich mit den Verbrechen der Vergangenheit zu beschäftigen, auch für unsere Zukunft“, sagt Yasemin. „Unser Engagement ist keine einmalige Sache. Rassismus und Diskriminierung sind auch in der Gegenwart ein Problem“, ergänzt Emirhan.

„Wir müssen das, was wir gelernt haben, weitergeben, es ist wichtig, sich mit den Verbrechen der Vergangenheit zu beschäftigen, auch für unsere Zukunft.“

Yasemin Rahimi, Schülerin des Helmut-Schmidt-Gymnasiums

Die Schüler*innen wollten Geschichte lebendig werden lassen und Empathie mit den verfolgten und ermordeten Menschen wecken
Die Schüler*innen wollten Geschichte lebendig werden lassen und Empathie mit den verfolgten und ermordeten Menschen wecken Jonas Walzberg

So lassen die Schüler*innen nicht nach. Es folgten Aktionen, wie etwa eine dritte Performance-Aktion am 9.11. in Wilhelmsburg zum Gedenken an die Opfer der Reichspogromnacht. Und viele weitere im vergangenen Jahr, eine davon gleich am 27.1., dem Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus. Dort hatten die in roten Overalls gekleideten Schüler*innen mitten in der Innenstadt auf dem Gerhard-Hauptmann-Platz eine Stuhlperformance inszeniert. Die Stühle standen für die Opfer, denen das Leben geraubt wurde.

Mit solchen Einsätzen gegen das Vergessen wollen die Jugendlichen viele Menschen erreichen und zum Aktivwerden motivieren. „Jeder sollte sich engagieren, denn egal, woher man kommt, Unrecht und Menschenverachtung sind Dinge, die uns alle betreffen“, sagt Emirhan. Dass und wie man etwas tun kann, haben die Schüler*innen mit ihrem Engagement vorbildhaft gezeigt.

Es entstand unter anderem ein bewegender Monolog zu den Verbrechen an den Kindern vom Bullenhuser Damm
Es entstand unter anderem ein bewegender Monolog zu den Verbrechen an den Kindern vom Bullenhuser Damm Jonas Walzberg

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