Sie zieren die linke und die rechte Wand des Treppenaufgangs im Hauptgebäude des Emilie-Wüstenfeld-Gymnasiums: zwei großformatige Wandgemälde der Hamburger Künstlerin Gretchen Wohlwill. In harmonischer Farbkomposition bilden sie junge Frauen ab, die sich den Künsten und dem Handwerk widmen. Das Gemälde mit dem Titel „Pflege der Natur“ zeigt zwei junge Frauen mit Gießkanne und Obstkorb im Garten. Auf dem gegenüberliegenden Bild „Die Geigerin“ sind eine Geige spielende und eine lesende Frau zu sehen.
„Seit der 5. Klasse gehe ich auf diese Schule und bin mehr als tausendmal an den Bildern vorbeigelaufen, aber nie habe ich mir Gedanken über sie gemacht“, sagt Olivia Krawczyk (16). So ähnlich ging es auch ihren Mitschülerinnen und Mitschülern des Theaterkurses aus dem Profil „Ästhetisches Begreifen“. Doch das anstehende Jubiläum der Schule – sie besteht seit 125 Jahren und das denkmalgeschützte und gerade frisch sanierte Hauptgebäude der Schule ist 100 Jahre alt – war für die Schüler ein Anlass, sich intensiver mit dem Werk und der Künstlerin zu befassen. Denn dahinter verbirgt sich auch ein dunkles Kapitel der Schulgeschichte.
„Dass die Bilder überkritzelt und schließlich gar nicht mehr zu sehen sein sollten, nur weil ihre Schöpferin eine Jüdin war, hat uns am meisten berührt“
Gretchen Wohlwill (1878 – 1962) war Malerin und Mitbegründerin der „Hamburgischen Sezession“, einer Gruppe moderner junger Künstler, die sich von der damals herrschenden Kunstauffassung abwandten und sich von den zeitgenössischen Künstlern um 1900 inspirieren ließen. So studierte Gretchen Wohlwill unter anderem bei Henri Matisse in Paris. 1910 wurde sie als Kunstlehrerin in der damaligen Mädchenschule, dem heutigen Emilie-Wüstenfeld-Gymnasium, angestellt. 1930 fertigte sie im Auftrag des Hamburger Oberbaudirektors Fritz Schumacher die beiden Gemälde im Treppenhaus der Schule an. Nur drei Jahre später wurde die jüdische Lehrerin im Zuge der zunehmenden Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten entlassen. Sie floh 1940 nach Portugal und überlebte dort die NS-Zeit. Ihre Gemälde wurden von den Nazis übermalt. Erst 1993 wurden die Bilder wieder freigelegt und restauriert.
„Dass die Bilder überkritzelt und schließlich gar nicht mehr zu sehen sein sollten, nur weil ihre Schöpferin eine Jüdin war, hat uns am meisten berührt“, sagt Filippo Pratesi (17). Der Profilkurs entschied sich, die Bilder in einer Theatralen Performance sprechen zu lassen. „Zunächst haben wir uns von den Motiven inspirieren lassen und dazu im Schreibworkshop Texte verfasst“, sagt Chelina Kegel (17). Die Schüler versuchten, sich in die Bilder hineinzuversetzen und beschrieben aus diesem Blickwinkel deren Erschaffung durch die Künstlerin, das Treiben der munteren Schülerschaft vor den fertigen Werken und schließlich die Schändung der Bilder, die mit Hakenkreuzen beschmiert und schließlich ganz übermalt wurden. „Im braunen Wahn vernebelte sich mein Sinn, mein Wesen, wurde ich entstellt, entwertet, entartet. Bis mich die braune Farbe schließlich gänzlich überrollte“, heißt es in einem Text der Schüler. „Beim Schreiben der Texte haben wir viel experimentiert und wirklich jeder hat eine Idee eingebracht, das war ein sehr demokratischer Weg“, berichtet David Hofner (18).
Die nächste Herausforderung bestand darin, die gehaltvollen Texte und das anspruchsvolle Thema in eine ansprechende Performance umzusetzen. Der Kurs arbeitete dazu mit Musik, Videoprojektionen und chorischen Elementen, in denen die Texte vorgetragen wurden. Ihre Inhalte bezogen sich auch auf die Freilegung der Bilder, auf die neue Sicht und auf die Gegenwart, in der Antisemitismus und Rassismus noch immer präsent sind. Es werden auch mehrere aktuelle Fälle wie der rechtsextreme Anschlag im Jahr 2020 in Hanau genannt. „Wir wollen nicht nur auf die Vergangenheit und unsere Schulgeschichte schauen, sondern auch den Bezug zur Gegenwart herstellen, denn Antisemitismus und Rassismus sind noch lange nicht verschwunden“, sagt Filippo Pratesi.
Ihre Performance mit dem Titel „Gretchen. Bilder der Erinnerung“ führten die Schülerinnen und Schüler bereits in einer Vorpremiere vor einem Kurs mit Erfolg auf. Aus ihrem Projekt haben die jungen Darsteller auch für sich selbst vieles mitgenommen. „Seit wir uns intensiv mit Gretchen und ihrer Geschichte befasst haben, blicken wir ganz anders auf ihre Bilder, mit ihnen ist die Erinnerung verbunden, dass der Antisemitismus kein fernes Thema ist, sondern auch an unserer Schule geschah“, sagt Chelina. Zugleich sei die Geschichte der Werke eine Mahnung, „aus der Vergangenheit zu lernen, um auch aktuelle Diskriminierung zu erkennen und sich gegen sie zu stellen“, ergänzt Filippo. Diese Erkenntnisse wollen die Schülerinnen und Schüler mir ihrer Performance auch anderen vermitteln. Weitere Auftritte sind geplant.