Nur drei Tage lagen zwischen der Hiobsbotschaft am 12. November vergangenen Jahres und der ersten Aktion der Schülerinnen und Schüler der Nelson-Mandela-Schule in Hamburg-Kirchdorf. „Zehn Tage bevor die Härtefallkommission der Hamburgischen Bürgerschaft tagen sollte, erfuhren wir durch das Helmut-Schmidt-Gymnasium von der drohenden Abschiebung der Familie“, erzählt Lena Otto, Klassenlehrerin der betroffenen Schülerin, deren Bruder das Helmut-Schmidt-Gymnasium besucht. Nach dem Willen der Ausländerbehörde soll die alleinerziehende Mutter zusammen mit ihren fünf Kindern in den Kosovo abgeschoben werden, dem Herkunftsland der Mutter. Der Fall liegt aktuell der Härtefallkommission zur Prüfung vor und wurde bereits mehrfach vertagt.
Weil alle fünf Kinder im Alter zwischen ein und zwölf Jahren in Deutschland geboren und aufgewachsen sind und in Hamburg zur Schule oder in den Kindergarten gehen, formierte sich an der Nelson-Mandela-Schule der Widerstand. Seit ihrer Gründung macht sich die Schule für Menschen mit Migrationshintergrund und Fluchterfahrung stark. Hier lernen 1100 Schülerinnen und Schüler aus 50 verschiedenen Ländern und Kulturen. Ein Motto, das die Kinder an der Nelson-Mandela-Schule früh lernen: „Meine Stimme hat Wirkung.“ Viele Schülerinnen und Schüler haben sie im aktuellen Fall erhoben.
„Mich macht das besonders betroffen, weil ich auch aus dem Kosovo komme“, sagt Endi Muriqi, 10, ein Mitschüler des Mädchens. „Es ist ungerecht, wenn wir bleiben dürfen und sie nicht, obwohl sie auch hier geboren ist.“ Auch Mitschülerin Agnesa Gashi stammt aus dem Kosovo, sie ist eine Freundin des von der drohenden Abschiebung betroffenen Mädchens. „Es macht mich traurig, dass sie einfach gehen soll, obwohl sie hierhergehört“, sagt die Elfjährige. „Wir gehen morgens gemeinsam zur Schule, spielen und lernen zusammen, sie ist auch gut im Unterricht. Warum Deutschland das macht, verstehe ich nicht. Ich hoffe, dass sie hierbleiben darf.“ Eine andere Mitschülerin, Naomi Sichone, 11, formuliert denselben Wunsch: „Ich wünsche mir, dass sie und ihre Familie hierbleiben darf, aber auch, dass so etwas nicht mehr passiert, weil alle das Recht haben, hier zu leben.“
Nachdem die Nelson-Mandela-Schule von der geplanten Abschiebung erfahren hatte, wandelte ein Teil der Schülerschaft die anfängliche Betroffenheit in die erste Aktion um: Die 5. Klasse des Mädchens organisierte zusammen mit dem Schulsprecherteam auf dem Schulhof einen Flashmob: Schülerinnen und Schüler halten Plakate hoch, die die Schülerinnen und Schüler zuvor selbst gestaltet hatten und auf denen sie ihre Forderungen formulierten. „Ihr gehört zu uns!“, „Wir geben euch nicht ab“, „Jeder hat das Recht, hier zu leben“ hatten sie zusammen mit vielen Ausrufezeichen auf die bunten Pappen geschrieben.
Dokumentiert wurde das Ganze in einem zweiminütigen Video, das anschließend bei YouTube hochgeladen wurde. Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler setzen sich darin für den Verbleib der Familie ein. Innerhalb von fünf Tagen wurde das Video fast 10.000 Mal geklickt. „Ich hatte das Gefühl, ganz Wilhelmsburg hat sich engagiert“, sagt Schulsprecherin Erona Berisha, 16. Meine Freunde, meine Familie, jeder hat den Link über WhatsApp oder in den sozialen Netzwerken verbreitet. Ich war ganz baff.“ Presse und Radio berichteten über das Thema. Auch die Jusos in Wilhelmsburg setzten sich für die Familie ein und starteten wenig später eine Online-Petition. Mitte Januar hatten 55.000 Menschen sie unterschrieben.
Schulsprecherin Erona Berisha, deren Eltern ebenfalls aus dem Kosovo kommen, spricht aus, was wohl alle Schülerinnen und Schüler der Schule denken: „Das Mädchen gehört hierher. Sie ist hier geboren, das ist ihr Land, nicht der Kosovo, das ist für sie ein fremdes Land. Sie hat die deutsche Sprache gelernt, ist hier aufgewachsen, sie weiß, wie das hier auf der Schule läuft, aber im Kosovo ist das ein komplett anderes System.“
Als die Klickzahlen für das Video immer weiter in die Höhe schossen, startete das benachbarte Helmut-Schmidt-Gymnasium die zweite Aktion und führte sie gemeinsam mit der Nelson-Mandela-Schule durch: Eine groß angelegte Unterschriftenaktion wurde gestartet und damit die erste handschriftliche Petition auf den Weg gebracht. An beiden Schulen wurden in jedem Jahrgang Zettel verteilt, viertausend Unterschriften kamen innerhalb von einer Woche zusammen. Selbst morgens in der U-Bahn wurde gesammelt. Sasia El Bani, 18, von der Nelson-Mandela-Schule war eine der U-Bahn-Aktivistinnen. „Ich habe den Fahrgästen die Geschichte der Familie erzählt. Man hat gesehen, dass es die Leute interessiert, aber keiner wollte den ersten Schritt machen“, erzählt sie. „Dann hat eine Frau den Anfang gemacht und unterschrieben. Danach haben uns ganz viele Leute angesprochen, wir haben dann noch mal den Hintergrund erklärt und konnten dann die Unterschriften einsammeln.“
Am 23. November wurden die Unterschriftenlisten von Erona Berisha, Sasia El Bani und dem Schulsprecher des Helmut-Schmidt-Gymnasiums, Nebi Polat, an Landesschulrat Thorsten Altenburg-Hack übergeben, der sie stellvertretend für Schulsenator Ties Rabe entgegennahm. „Wir sind sehr herzlich in der Schulbehörde empfangen worden“, berichtet Sasia El Bani. „Herr Altenburg-Hack war sehr offen, alle haben sich sehr für den Fall interessiert“, sagt die Schülerin. Die drei legten dem Landesschulrat ihre Sicht der Dinge dar und zeigten ihm die Plakate, die die Schülerinnen und Schüler gestaltet hatten. Mit überreicht wurden Briefe von Schülerinnen und Schülern der Klasse 6f an den Schulsenator, in denen sich die Kinder kritisch zum Thema Abschiebung äußern.
Die 18-jährige Sasia El Bani möchte sich nicht vorstellen, wie es wäre, selbst so eine Abschiebeandrohung zu bekommen. Denn auch ihr Vater ist vor vielen Jahren einmal aus einem anderen Land nach Deutschland gekommen. „Wenn ich mir vorstelle, in solch einer Situation zu sein und mir würde gesagt, für deinen Vater gibt es keine Chance hierzubleiben, da würde ich auch alle Hebel in Bewegung setzen, die man in Bewegung setzen kann.“ Auf dem Gebiet der Flüchtlingspolitik sieht Sasia El Bani Verbesserungsbedarf. „Bei Leuten, die selbst geflohen sind, aus einem Kriegsgebiet oder weil sie politisch verfolgt wurden, sollte man nicht die Politik sprechen lassen, sondern die Mitmenschlichkeit“, sagt sie. „Kein Mensch lässt freiwillig sein ganzes Leben hinter sich und geht in ein Land, in dem er die Sprache und die Kultur nicht kennt. Die Menschen kommen doch aus Gründen, die wir uns gar nicht vorstellen können.“
Klassenlehrerin Lena Otto freut sich über die zupackende Haltung der Schülerinnen und Schüler. „Die Energie im Klassenraum war immer: Wir machen was! Wir ändern was!“, schildert die Pädagogin. „Und dass die Kinder so eine Demokratie- und Selbstwirksamkeitserfahrung machen durften, das finde ich einfach grandios. Da war eine Energie und ein Engagement, das wäre mit keinem Unterricht zu erreichen gewesen.“
Die Entscheidung der Härtefallkommission ist wohl auch dank dieses Engagements gerade ein weiteres Mal vertagt worden. Noch ist nichts entschieden. Aber die Schülerinnen und Schüler der Nelson-Mandela-Schule bleiben zuversichtlich. „Wir glauben, dass die Chancen ganz gut stehen“, sagt Sasia El Bani. „Wir haben wirklich sehr viele Hebel in Bewegung gesetzt. Das ist einfach der Optimismus, der spricht. Und die Hoffnung.“