Jedes Jahr um den 21. September, dem Geburtstag von Ilse Löwenstein, gedenkt die Ilse-Löwenstein-Schule mit einem „Ilse-Tag“ ihrer Namensgeberin. Im Alter von 17 Jahren wurde die Jüdin nach Minsk deportiert und dort 1941 ermordet. Seit 2014 trägt die ehemalige Stadtteilschule Humboldtstraße ihren Namen. „Mit der Namensgebung wollen wir als Schule die Identitätsbildung unserer Schule stärken und gleichzeitig historisch Verantwortung übernehmen“, heißt es auf der Webseite der Schule. Dazu gehört für Schulleitung und Kollegium auch, die Erinnerung wachzuhalten. Im vergangenen Jahr ist der Schule dies auf besonders innovative Weise gelungen.
Vor Corona wurde der „Ilse-Tag“ von den Lehrkräften gestaltet. Nun wurden erstmals Schülerinnen und Schüler mit dieser Aufgabe betraut: Die Mitglieder der AG „Schule gegen Rassismus“, Schülerinnen und Schüler des 6. Jahrgangs, übernahmen es, diesen wichtigen Tag zu gestalten. „Es war mein Wunsch, die Organisation in die Hände der Schülerinnen und Schüler zu legen“, sagt Christina Lange, Leiterin der im August 2021 gegründeten AG. „Der ‚Ilse-Tag‘ sollte ein Tag von Schüler*innen für Schüler*innen sein.“
In einem Kurzfilm, den die Schülerinnen Sara Ramos Gomez (13), Olivia Olejarz (13) und Schulsprecher Julius Jacobsen (15), der sich um die technische Realisation kümmerte, für den „Ilse-Tag“ produzierten, wird zunächst eine Einführung in das Leben von Ilse Löwenstein und die Zeit, in der sie lebte, gegeben. Der Film endet mit einem Arbeitsauftrag: „Was wir uns nun fragen: Warum musste Ilse sterben? Sie war eine Jüdin, das war ihr Todesurteil. Aber warum war es damals ein Todesurteil, wenn man jüdisch war? Dieser Frage wollen wir jetzt auf den Grund gehen: Überlegt in der Klasse, warum es zur Zeit der Nationalsozialisten ein Todesurteil war, jüdisch zu sein.“
Um die Schülerinnen und Schüler mit den nötigen Hintergrundinformationen zu versorgen, wurde am „Ilse-Tag“ in den teilnehmenden Klassen auch der Podcast präsentiert, den Liv Hellwich (12), Carla Daniel (12), Atena Karimi (11), Marie Sophie Griemsehl (11) und Zayana Mielke (11) produziert hatten. In ihrem 15-minütigen Audio-Stück führen sie in altersgerechter Weise in die Geschichte des Antisemitismus ein.
„Wieso waren jüdische Menschen eigentlich die Hauptopfer der Nationalsolisten?“
„Meinst du vielleicht Nationalsozialisten?“
„Genau! Oah, dieses Wort!“
„Das ist eine etwas längere Geschichte. Hast du Zeit?“
„Ja klar, heute ist ja der ‚Ilse-Tag‘. Der ist doch dafür da, dass wir uns Zeit nehmen zum Erinnern. Erzähl!“
Mit verteilten Sprecherrollen und im Frage-und-Antwort-Stil schlagen die Schülerinnen einen Bogen von den Anfängen der Judenverfolgung im frühen Christentum bis hin zum größten Zivilisationsbruch in der Geschichte, dem Holocaust. Unterstützt wurden sie dabei von Christina Lange, der Leiterin der AG „Schule gegen Rassismus“, und der Pädagogin Astrid Bürenheide, die unter anderem historische Fakten zusammentrugen.
In fünf kurzen Episoden behandeln die Schülerinnen jeweils einen Aspekt der Geschichte des Antisemitismus. Um den Podcast altersgerecht zu gestalten, hat Christina Lange die Reaktionen der Schülerinnen und Schüler auf die dem Podcast vorangegangenen Diskussionen im AG-Unterricht mit in die Texte einfließen lassen. Das Thema Rassentrennung und Ausgrenzung habe damals alle sehr berührt, berichtet die Pädagogin. In der Podcast-Episode zur Rassentheorie der Nazis empört sich eine Schülerin: „Es ist doch absurd, dass Menschen in Rassen eingeteilt wurden. Ich dachte, nur Tiere werden in Rassen eingeteilt.“
Die Schülerinnen haben viel Arbeit in den Podcast gesteckt. Immer wieder musste der Text gelesen werden, häufig auch in den Pausen und nach der Schule. „Wir mussten viel üben, damit wir die schwierigen Wörter richtig aussprechen und betonen konnten“, erzählt Atena Karimi. Am Sinn des Ganzen aber zweifelte keines der Mädchen. „Ich finde es wichtig, die Schülerinnen und Schüler daran zu erinnern, warum unsere Schule Ilse-Löwensein-Schule heißt und warum man Ilse nicht vergessen darf“, sagt sie, „denn Ilse Löwenstein hatte ein schlimmes Schicksal, und sie war noch so jung, als sie mit 17 Jahren im KZ getötet wurde.“ Ihre Podcast-Kollegin Carla Daniel ergänzt: „Es ist wichtig, daran zu erinnern, weil viele Jüngere nicht wissen, was damals passiert ist.“
Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler Tyron Egounlty (11), Kenji Ohira (12), Tarek Ait Abdelmalik (11), Victoria Olejarz (13), Alina Hermann (11), Wahida Deraaz (12) und Alicia Cachinero (11) können das aus eigener Erfahrung bestätigen. Denn sie lieferten mit ihrem Video den dritten Medienbeitrag zum „Ilse-Tag“, in dem sie unter anderem die Ergebnisse einer Umfrage unter Schülerinnen und Schülern präsentieren und die geplanten Aktionen der „Ilse-Challenges“ vorstellen. Auch hier kümmerte sich Julius Jacobsen um die technische Umsetzung.
Zwei Fragen hatten sie im Gepäck: „Wo liegt der Stolperstein für Ilse?“ Und: „Wofür stehen Stolpersteine?“ Mit dem Ergebnis der Umfrage waren die Schülerinnen und Schüler nicht zufrieden, wie sie im Video erzählen: „Wir haben in der Umfrage herausgefunden, dass von 41 Schülerinnen und Schülern 15 wissen, wo der Stolperstein von Ilse liegt. Das finden wir zu wenig. Deshalb fordern wir euch heraus: Geht zur Humboldtstraße 56, da findet ihr den Stolperstein von Ilse.“
Und auch das zweite Umfrageergebnis lieferte ihnen Grund zur Beanstandung: Denn von 41 Schülerinnen und Schülern konnten nur 13 erklären, wofür Stolpersteine stehen, elf wussten es ungefähr, 17 gar nicht. „Weil wir finden, dass alle Schülerinnen und Schüler wissen sollten, wofür Stolpersteine stehen, fordere ich euch jetzt sofort heraus, die Erklärungen zu lesen“, heißt es im Video, das die korrekte Antwort einblendet. „Und wir fordern euch heraus, auch eine Umfrage zu starten.“ Damit war die erste der sieben „Ilse-Challenges“ vorgestellt, die binnen zwei Wochen realisiert und dokumentiert werden sollten.
Neben den Umfragen gab es weitere Aktionen gegen das Vergessen, aus denen die Klassen wählen konnten. Es wurden Plakate erstellt, Steine bemalt, Stolpersteine geputzt und Erinnerungskerzen angezündet, die Klasse 6e pflanzte einen weiteren „Ilse-Baum“, andere Klassen studierten den „Ilse-Song“ ein, die Klasse 8e sogar auf Englisch.
Die Klasse 7e beteiligte sich mit einer eigenen Aktion. „Die 7e findet, dass es in Hamburg schon seit Jahren eine super Aktion gegen das Vergessen von Nazi-Opfern gibt: die Stolpersteine. Allerdings gibt es noch lange nicht für alle Opfer einen Gedenkstein. Wir wollen dazu beitragen, dass sich das ändert“, heißt es in der Bewerbung. Um die 120 Euro für einen neuen Stolperstein aufzubringen, verkauften die Siebtklässlerinnen und Siebtklässler in der Schule selbstgebackenen Kuchen und sammelten bei den Eltern Spenden. In der Rothenbaumchaussee 181 erinnert nun ein neuer Stolperstein an Julius Hochfeld. Er war 14 Jahre alt, als er in Auschwitz ermordet wurde. „Der bleibt für immer“, schrieb die Klasse in ihrer Bewerbung.
Die Podcast-Macherinnen erinnern sich noch gut daran, wie es war, die Umfrage auf der Straße durchzuführen. „Ich habe auf jeden Fall gemerkt, dass viele Leute nicht wissen, wofür Stolpersteine stehen. Das berührt mich sehr“, sagt Marie Sophie Griemsehl. Es gab auch positive Momente. Liv Hellwich erinnert sich: „Manchen Leuten habe ich erzählt, dass sie mal auf die Webseite unserer Schule gucken sollen, dass es da weitere Informationen gibt. Und manche Leute haben dann gleich ihr Handy genommen, unsere Schule gegoogelt und in den Podcast reingehört. Also, dass sie da sofort reingehört haben, mitten auf der Straße, das war schon ein schönes Gefühl.“
Link zu weiteren Videos und dem Podcast der Schule:
https://ilse-loewenstein-schule.hamburg.de/2021/11/ilse-tag-und-ilse-challenge-2021/