Begegnungs- und Kooperationsprojekt „Child Survivor Marione Ingram“

BERTINI-Preis 2021 · Friedrich-Ebert-Gymnasium

21 Schülerinnen und Schüler des jetzigen 11. Jahrgangs brachten die Kindheitsgeschichte der Holocaust-Überlebenden Marione Ingram als Theaterstück auf die Bühne, wandelten es coronabedingt in eine Film-Collage um und konzipierten und gestalteten die mittlerweile vergriffene deutsche Ausgabe von Marione Ingrams Buch „Kriegskind – eine jüdische Kindheit in Hamburg“ als kommentierte Schulbuchausgabe.

Die Entstehung des Projekts verdankt sich einer besonderen Konstellation: Der Theaterkurs der Klasse 8T1, geleitet von dem Lehrer Michael Milde, wünschte sich im Mai 2019 für ein neues Theaterprojekt das Thema Nationalsozialismus. „Wir waren eine Multikulti-Klasse“, erklärt eine der Darstellerinnen, Helin Kaya, heute 17 Jahre alt, den eher ungewöhnlichen Wunsch. „Ich glaube, dass wir alle auf die eine oder andere Weise schon Diskriminierung in Form von Rassismus erfahren haben, deswegen war es uns wichtig, ein Zeichen zu setzen.“ Zur selben Zeit ist die heute in Washington lebende Marione Ingram zusammen mit ihrem Mann Daniel zu Besuch in Hamburg. Michael Mildes Kollegin, Kunstlehrerin Stefanie Engel, hatte kurz zuvor ihr Buch „Kriegskind – eine jüdische Kindheit in Hamburg“ kennengelernt und sich mit der Autorin angefreundet. Damit war der Grundstein für eine enge freundschaftliche Beziehung zwischen dem Friedrich-Ebert-Gymnasium und der Holocaust-Überlebenden, die bis heute anhält, gelegt. Die Pädagogin, die dieselbe Klasse in Kunst und Deutsch unterrichtet, nutzte die Gunst der Stunde und brachte beide Seiten zusammen: Im Mai 2019 las Marione Ingram im Deutschunterricht der Klasse 8T1 aus ihrem Buch vor, und Kollege Michael Milde wählte es als Grundlage für den Theaterunterricht.


Zweimal Lena Schimmelmann: Als Marione-Ingram-Darstellerin nach dem Selbstmordversuch der Mutter (Bildschirm) und als Zuschauerin des Collagen-Films (vorne)
Zweimal Lena Schimmelmann: Als Marione-Ingram-Darstellerin nach dem Selbstmordversuch der Mutter (Bildschirm) und als Zuschauerin des Collagen-Films (vorne) Maren Preiß

In dem Buch erzählt die heute 86-jährige Frau von ihren traumatischen Kriegserlebnissen: wie sie als Kind einer jüdischen Mutter und eines nicht-jüdischen Vaters Diskriminierung und Ausgrenzung erfährt. Die Klasse ist von dem Bericht der Zeitzeugin beeindruckt. „Es gibt ja nur noch wenige Menschen, die ihre Geschichte so erzählen können, und es werden in Zukunft noch weniger sein“, sagt Lintaro Simmel (16).

Nun also lasen die Schülerinnen und Schüler des Theaterkurses im Deutschunterricht das Buch „Kriegskind“ und entwickelten parallel dazu im Theaterkurs Szenen für die Bühne. Zur Freude aller willigte Marione Ingram ein, diesen Prozess beratend zu begleiten.

Und ein weiterer Plan entstand: Zwei aufeinanderfolgende neunte Klassen nahmen sich im von Stefanie Engel gestalteten Kunstunterricht ebenfalls des Buches an. Gemeinsam wollten sie eine kommentierte und selbst gestaltete Schulbuchausgabe herausgeben und holten sich dafür Hilfe bei der Hamburger Grafikerin Karin Kröll.

Doch dann durchkreuzte ein Virus die Planungen: Die Theaterproben mussten infolge des Lockdowns eingestellt werden. Das Theaterstück wurde nun im Homeschooling weiterentwickelt, immer mehr Fragen tauchten auf. „Weil im Buch einige Sachen nicht so präzise beschrieben sind, wie wir es für die Umsetzung unseres Theaterstücks wissen wollten, haben wir die Fragen, die im Kurs entstanden sind, per Mail an Frau Ingram geschickt und sie von ihr in einer Zoom-Konferenz beantworten lassen“, erzählt Alyena Simsek (16). Trotz Lockdowns und räumlicher Distanz ist es den Schülerinnen und Schülern gelungen, intensiv mit Marione Ingram in Kontakt zu bleiben und die Arbeiten am Theaterprojekt wie an der kommentierten Schulbuchausgabe voranzutreiben.


„Als ich mich in ihre Situation hineinversetzen musste, da habe ich diesen Verrat auch selbst gespürt“

Minciye Ertugrul (17), Schülerin des Friedrich-Ebert-Gymnasiums


Was dann folgte, war eine Zeit großer Unsicherheit: Neue Hygienevorschriften mit Maskenpflicht und Abstandsgebot und die Empfehlung von Arbeit in Kleingruppen machten nach dem Ende des Homeschoolings den anfänglichen Plan eines von großen Ensembleszenen getragenen Theaterstücks zunichte. Das bisherige Konzept musste verworfen, ein neues entwickelt werden. Am Ende stand die Idee einer Film-Collage. „Wir haben dann die meisten der ursprünglich geplanten großen theatralen Szenen in kleinere, intime umgewandelt und die Zoom-Interviews, die wir mit Marione Ingram geführt haben, in den Film integriert“, berichtet das Projekt-Duo Michael Milde und Stefanie Engel. Realisiert wurde er gemeinsam mit dem Hamburger Filmemacher Thomas Oswald.

Mit dem 43-minütigen Film ist ein Zeitdokument entstanden, das am Ende mehr geworden ist als die Summe seiner einzelnen Teile. Fünf Schülerinnen verkörpern darin Marione in den verschiedenen Stadien ihrer Kindheit und Jugend. Andere Darstellende nehmen die Rollen von Nazis ein. Es geht um große Themen wie Verrat, Verlust, Ausgrenzung, Manipulation, Angst und Enttäuschung. Aber auch um Resilienz, Mut und Zivilcourage. Hintergrundinformationen liefert der Film durch chorische Zwischenszenen und durch Ausschnitte aus Videokonferenzen mit Marione Ingram, die das Theaterspiel kommentieren.


Stellwand mit Buchcover
Stellwand mit Buchcover Maren Preiß

Helin Kaya (17) ist eine der fünf Darstellerinnen von Marione Ingram. „Schon beim Lesen ihres Buchs im Deutschunterricht hat es sich schlimm angefühlt. Aber dadurch, dass ich Marione dann später gespielt habe, wurde mir wirklich klar, wie schrecklich das ist, was sie alles erleben musste.“ Helin Kaya spielte die achtjährige Marione in einer Bombennacht des Jahres 1943, als sie an der Hand ihrer Mutter durch die brennenden Straßen Hamburgs irrt und Zuflucht in einer Kirche sucht, weil im Luftschutzbunker ihres Wohnhauses nur Arier Zutritt haben. Als sie auch in der Kirche abgewiesen werden, zeigt Marione auf die Figur der Gottesmutter und fragt entrüstet, ob Maria denn keine Jüdin sei. Helin Kaya: „Marione war damals viel jünger als wir jetzt. Als ich sie gespielt habe, hab ich mich gefühlt wie 30. Sie war so früh schon so reif und so stark. Das war toll, diese Stärke auch in mir zu fühlen.“

Auch für Minciye Ertugrul (17) blieb das Theaterspiel nicht ohne Wirkung. Sie verkörperte Marione in der Szene, in der ihre Freundin Monika sich von ihr abwendet und Marione plötzlich als „Judenschwein“ beschimpft. Monikas Vater war, erfahren wir in der chorischen Zwischenszene, kurz zuvor zum Blockwart ernannt worden, Kontakt zu Juden war der Tochter nun verboten. „Als ich mich in ihre Situation hineinversetzen musste, da habe ich diesen Verrat auch selbst gespürt“, sagt Minciye Ertugrul.

Lintaro Simmel im TV-Interview mit Christian Becker vom NDR
Lintaro Simmel im TV-Interview mit Christian Becker vom NDR Maren Preiß

Schüler Hugo Dunkel (16) hat es besonders bewegt, dass Marione nicht nur von fremden Leuten, sondern auch von den ehemaligen Freunden verstoßen wurde, und zieht Parallelen zu heute. „Das, was damals passiert ist, gibt es auch heute, wenn auch in anderer Form. Auch heute werden Menschen gehasst wegen ihrer Religion, ihrer Hautfarbe oder ihrer sexuellen Orientierung. Und das zeigt, dass aus etwas Kleinem jederzeit etwas Schlimmes passieren kann.“

Dem Theaterkurs ist der Brückenschlag in die Gegenwart eindrucksvoll gelungen. In der Schlussszene sieht man die Ensemblemitglieder als Demonstrierende. Sie halten bunte Pappschilder in die Höhe, zusammen bilden sie den Slogan „Make love, not war“. Vorn steht eine Schülerin, die Marione Ingram während des Lockdowns in einer Videokonferenz persönlich zu deren Engagement im Civil Rights Movement interviewte. Das weiße T-Shirt der Schülerin wird zusammen mit den weißen Rückseiten der Demonstrationsplakate zur Leinwand, auf die Marione Ingrams Gesicht aus der Zoom-Konferenz projiziert wird. Es ist eine Art „Best-of“ jener Konferenz-Szenen, in denen sich Marione sehr persönlich und direkt an die Schülerinnen und Schüler wendet und deren Auftrag für die Zukunft formuliert.

„Wir leben in gefährlichen Zeiten“, sagt Marione Ingram. „Uns steht eine große Aufgabe bevor. Wir müssen zusammenhalten – über Ländergrenzen, Religionen und Nationalitäten hinweg, um eine Zukunft zu verhindern, die im Moment recht finster erscheint. Wenn bei euch zu Hause oder bei Freundinnen und Freunden schlecht über andere gesprochen wird, dann hoffe ich, dass ihr den Mut habt zu widersprechen. Ihr habt einen großen Vorteil: Ihr seid vernetzt mit Menschen aus der ganzen Welt. Ihr könnt die Welt verändern. Good luck, guys!“ Die Botschaft scheint angekommen zu sein. Der 16-jährige Lintaro Simmel sagt im Interview: „Ich glaube, dass es jetzt an uns ist, diese Geschichte weiterzutragen und an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben.“

Das Projekt lebt weiter fort. Gerade hat die kommentierte Schulbuchausgabe die Druckerpresse verlassen. Schülerin Ewa Michalak aus dem 10. Jahrgang hat die Zeichnung für das Buchcover gestaltet. Und auch eine Hörbuchfassung ist in Vorbereitung, eingelesen von den Schülerinnen und Schülern des Friedrich-Ebert-Gymnasiums.


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