Was wollt ihr denn in Bosnien? Diese Frage mussten sich 16 Schülerinnen und Schüler der Stadtteilschule Stellingen und der Ida-Ehre- Schule häufig anhören. Denn die Elftklässler bereiteten 2010 einen Austausch mit Schülerinnen und Schülern aus Sarajevo vor und damit eine Reise in eine Region, in der vor 17 Jahren ein erbitterter Bürgerkrieg herrschte. Von 1992 bis 1995 wüteten die Kämpfe zwischen Serben, Kroaten und Bosniern um die Vorherrschaft in der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik. Die Ereignisse sind noch immer gegenwärtig.
Für die Hamburger Jugendlichen zählte der Kontakt zu den Menschen dort. „Mein Nachbar hat mir von Bosnien erzählt und mir Fotos gezeigt, das hat mich neugierig gemacht und deshalb habe ich mich für den Schüleraustausch angemeldet“, berichtet Martina Schumann, 18, von der Ida-Ehre-Schule.
Auch Linah Hein, 17, hatte Fotos gesehen und von Schülern, die im Jahr zuvor dort gewesen waren, „viel Positives gehört“. „Das Leben in Bosnien ist viel härter als das in Deutschland, trotzdem sind die meisten Bosnier glücklich, auch wenn sie Probleme haben“, so Samir Kahric von der Stadtteilschule Stellingen. Der 20-Jährige wurde in Bosnien geboren. Er floh als Kleinkind mit seiner Mutter vor dem Krieg nach Deutschland und wuchs in Hamburg auf. Samir besuchte immer wieder seine Heimat. Nach seinem Aufenthalt in Srebrenica 2003 brachten er und seine Mitschüler das erste Bosnien-Projekt ins Rollen.
Für den Bau eines Spielplatzes sowie neuer Sanitäranlagen für die Berta-Kucera-Schule in Srebrenica sammelten Samir und seine Klasse Spenden. Für ihr Engagement erhielten die Schülerinnen und Schüler den BERTINI-Preis 2004. „Wir haben den Kontakt zu Bosnien gehalten“, sagt Klassenlehrerin Cläre Bordes, die bis dahin Schülerfahrten nach Schweden organisiert hatte. Schließlich kam es 2005 zum ersten Schüleraustausch mit dem Vierten Gymnasium in Ilidza, Sarajevo und der Stadtteilschule Stellingen. Seit 2006 beteiligt sich auch die Ida-Ehre-Schule an dem Projekt.
Schon im Vorfeld des Schüleraustauschs leisteten die Jugendlichen viel Arbeit. Sie informierten sich über ihr Reiseziel, befragten Experten wie den langjährigen OSZE-Beauftragten Freimut Duve und organisierten Lesungen mit ihm. Des Weiteren mussten Programme abgestimmt, Einreiseformalitäten erledigt und Unterkünfte organisiert werden. Jeder Hamburger Jugendliche bekam einen Austauschpartner zugeteilt, in dessen Familie er eine Woche wohnte. In Sarajevo lebte dann der Hamburger Jugendliche eine Woche in der entsprechenden bosnischen Familie. Die Jugendlichen traten mit ihren Reisepartnern bereits vor der Begegnung per Internet in Kontakt. „Ich hatte mich mit meiner Austauschpartnerin Emina schon per Mail gut verstanden und freute mich auf sie“, erzählt Martina Schumann.
Im September 2010 trafen 16 Schülerinnen und Schüler des Vierten Gymnasiums in Ilidza, Sarajevo in Hamburg ein. Sie erlebten die Hansestadt inklusive Hafenrundfahrt und Rathausbesuch und gemeinsam arbeiteten beide Schülergruppen an einem Graffiti-Projekt. „Wir haben an der Sporthalle der Stadtteilschule Stellingen Motive zum Thema Ökologie gesprayt, wir wollten die Zerstörung der Welt zeigen, aber auch, wie neues Leben daraus wachsen kann“, so Linah. Angeleitet wurde die Arbeit vom französischen Graffiti- Künstler Darco. Auch in Sarajevo entstanden an der dortigen Schule unter seiner Leitung neue Wandbilder. „Graffiti verbindet“, bringt Eduard Korostelev, 17, von der Stadtteilschule Stellingen seine Erfahrungen auf den Punkt. „Die Arbeit hat Spaß gemacht und wir lernten uns dabei besser kennen“, so der Schüler.
„Die Sprache war kein Problem, viele sprechen Deutsch“, sagt Martina. „Acht der Austauschschüler sind in Deutschland geboren oder als kleine Kinder mit ihren Eltern vor dem Bosnienkrieg nach Deutschland geflohen“, ergänzt Linah. Nach dem Krieg wurden die Bosnier wieder zurückgeschickt. „Besonders für die Kinder war das schwierig, sie besuchten hier den Kindergarten oder die Grundschule, für sie war Deutschland ihr Zuhause geworden und Bosnien eine fremde Heimat“, so Martina. Dass Familien mit jahrelangen Rückreisesperren belegt wurden und deshalb eine Teilnehmerin des Austausches nicht nach Hamburg kommen konnte, empörte die Jugendlichen. Bei Treffen mit Politikern in Hamburg und in Berlin, wohin die ganze Austauschgruppe einen eintägigen Ausflug von Hamburg aus unternommen hatte, setzten sie sich für eine freie Einreise ein.
Im Anschluss an den Hamburg-Aufenthalt flogen sie mit ihren Austauschpartnern und den Lehrerinnen Cläre Bordes und Julia Muhs nach Sarajevo. Auf dem Gegenbesuch in Sarajevo lernten die Jugendlichen dann die bosnische Realität kennen. Die Schülerinnen und Schüler aus Hamburg erlebten die schönen und die traurigen Seiten der Stadt und ihrer Umgebung. Sie nahmen am Schulalltag teil und feierten zusammen. Aber sie setzten sich auch mit dem Krieg und seinen Traumata auseinander, etwa beim Besuch im Tunnelmuseum von Butmir, das an die Belagerung Sarajevos und den damals gebauten Versorgungstunnel erinnert. „Es gab im Museum eine riesige Namensliste von Kriegstoten, sie zu lesen war ein ergreifender Moment für uns alle, denn fast jeder von den bosnischen Schülern hat Familienmitglieder verloren“, weiß Martina. „Es ist eine faszinierende Stadt, aber überall sind noch zerschossene Häuser zu sehen, das war erschütternd“, berichtet Linah. „Und als wir uns in der Fußgängerzone umblickten, wurde uns klar, dass jeder über 18-Jährige, der uns begegnete, den Krieg erlebt hat“, ergänzt Martina.
„Es ist eine faszinierende Stadt, aber überall sind noch zerschossene Häuser zu sehen, das war erschütternd“
Nach ihrer Rückkehr arbeiteten die Schülerinnen und Schüler daran, ihre Erkenntnisse und Erfahrungen auf verschiedene Arten weiterzuvermitteln. Sie stellten eine Schülerzeitung mit eigenen Artikeln und Zeitzeugeninterviews her. Sie produzierten einen Kurzfilm über ihr Austauschprojekt und führten ihn u. a. Ex- Bürgermeister und Balkan-Experte Hans Koschnick aus Bremen vor. „Er war begeistert und meinte, wir hätten die Situation dort treffend dargestellt“, freut sich Linah.
Der Austausch hat bei den Jugendlichen selbst viel angestoßen. Sie schauten über den sprichwörtlichen eigenen Tellerrand hinaus, wurden zum politischen Engagement motiviert, fanden neue Freunde. „Wir haben Elend und Armut gesehen, aber wir haben auch viel Fröhlichkeit erlebt, sind auf Menschen getroffen, die sich gefreut haben, dass wir da waren“, sagt Martina. Und: „Ich würde wieder dorthin reisen, schon um Emina wieder zu treffen.“