Wie hast Du Esther Bauer kennengelernt?
Richard Haufe-Ahmels: Esther Bauer war Anfang 2009 zur feierlichen Einweihung des Marie-Jonas-Platzes nach Hamburg gekommen. Sie lebt seit 1946 in New York, aber sie besucht häufig ihre Geburtsstadt Hamburg, denn sie wird oft als Zeitzeugin zu Gesprächen mit Schülern oder auch interessierten Erwachsenen eingeladen. Dies war allerdings ein besonderer Termin, denn Marie Jonas war ihre Mutter. Die Lehrerin und Medizinerin arbeitete als Schulärztin an der Jüdischen Töchterschule. Direktor der Schule war ihr Ehemann und Esthers Vater Alberto Jonas. Die Familie lebte bis 1942 in Eppendorf, unweit des heutigen Marie-Jonas-Platzes. Ich wollte die Einweihung mit meiner Kamera dokumentieren und ein Interview mit Esther Bauer führen. Daraus entstand die Idee mit ihr durch ihr altes Viertel zu gehen und sie über ihre Kindheit und Jugend erzählen zu lassen.
Es blieb dann nicht bei einem Treffen?
Zwischen 2009 und 2011 trafen wir uns mehrmals. Immer wenn sie in Hamburg war, habe ich sie mit der Filmkamera begleitet. Ich war auf Veranstaltungen dabei, wo sie als jüdische Zeitzeugin über ihre Erfahrungen während der NS-Zeit berichtete. Und in Eppendorf suchten wir die Plätze ihrer Kindheit auf. Ich konnte auch in der Wohnung drehen, aus der Esther und ihre Eltern ausziehen mussten, weil ein Nazi es auf die geräumige Altbauwohnung abgesehen hatte. Esther hat heute Kontakt und inzwischen Freundschaft mit den jetzigen Bewohnern geschlossen und besucht sie gerne, wenn sie in Hamburg ist. Sie zeigte mir, wo ihr Zimmer und das Arbeitszimmer ihres Vaters lagen. Dabei hat sie viel über ihre Familie erzählt.
Welches Verhältnis hatte sie zu ihren Eltern?
Sie wuchs behütet auf. Aber ihr Vater war sehr streng. Esther bekam zum Beispiel keine Schultüte zur Einschulung, weil das nicht gerecht gegenüber armen Kindern sei, die keine Chance auf eine Schultüte hätten. Als Hitler an die Macht kam, war Esther neun Jahre alt. Die Eltern versuchten sie vor den Repressalien gegen die Juden abzuschirmen. 1938 wanderten viele ihrer Schulfreundinnen mit ihren Familien aus. Ihre Mutter, die fließend Englisch sprach, hätte Deutschland auch verlassen. Doch Esthers Vater, der fünf Sprachen, aber kaum Englisch beherrschte, wollte bleiben. Er versuchte verzweifelt den Schulbetrieb aufrechtzuerhalten. Sie glaubt heute, dass er die Nazis unterschätzt hat.
„Es wird bald keine Zeitzeugen mehr geben, deshalb ist es wichtig, ihre Geschichten festzuhalten, damit sie in Erinnerung bleiben.“
Wie hat sie den Holocaust überlebt?
Sie hat, wie sie selber sagt, sehr viel Glück gehabt. 1942 wurden sie und ihre Eltern nach Theresienstadt deportiert. Esthers Vater starb dort nach wenigen Wochen an den Folgen der harten Zwangsarbeit. Sie selbst bekam eine doppelte Lungenentzündung und wäre daran gestorben, wenn ihr nicht ein Tscheche geholfen hätte, er besorgte ihr Medikamente. Und wurde schließlich ihr erster Ehemann. Als er kurz nach der Hochzeit nach Auschwitz deportiert wurde, ging sie freiwillig mit ihm. Ihr Mann kam zwei Tage nach Kriegsende in einem befreiten Konzentrationslager ums Leben, ihre Mutter starb in Auschwitz. Sie selber war zehn Tage dort, unter grausamen Bedingungen. Dann wurde sie nach Freiberg bei Dresden verschleppt, um Flugzeuge zu bauen. Kurz vor Kriegsende kam sie in das KZ Mauthausen, wo sie von den Amerikanern befreit wurde.
Trotz aller Grausamkeiten brach ihr Lebenswille nicht …
… im Gegenteil. Sie war den Gaskammern entkommen und in die Zwangsarbeit geschickt worden. Dort betrieb sie ihre eigene Form von Sabotage. Sie baute die Nieten für die Flugzeugteile zu kurz oder zu lang. Mit Stolz erzählt sie heute, kein Flugzeug, das sie gebaut hat, würde fliegen können. Nach ihrer Befreiung sagte sie sich: „Jetzt will ich leben, jetzt bin ich eine glückliche Person.“ 1946 ging sie schließlich nach New York, wo sie gleich am zweiten Tag ihren späteren zweiten Ehemann kennenlernte.
Warum wolltest Du einen Film über sie machen?
Ich war schon beim ersten Treffen beeindruckt von ihrer Art des Erzählens und von ihren lebhaften Berichten, sie fängt einen sofort ein. Sie besitzt viel Humor und geht auf Menschen zu. In den ersten zwanzig Jahren nach Kriegsende konnte sie über die schrecklichen Erlebnisse nicht sprechen. Heute ist es ihr wichtig, vor allem Jugendlichen zu schildern, was damals passiert ist, damit es nicht wieder passiert. Und dabei kann ich sie mit meinem Film unterstützen.
Wie bist Du an die Strukturierung des Films herangegangen?
Als ich Esther das erste Mal traf, war ich 15 Jahre alt. Ich hatte schon Dreherfahrung, aber ich war noch zu jung, um das Material zu strukturieren. Ich habe sie erst einmal erzählen lassen und später Fragen gestellt. Ich interviewte sie in Hamburg und auch bei ihr zu Hause in New York. Und ich ließ noch andere Stimmen wie eine Historikerin und eine Theaterautorin zu Wort kommen. Um eine sinnvolle Struktur zu finden, bin ich schließlich mein ganzes Material durchgegangen und habe zu jeder Sequenz den Inhalt aufgeschrieben. Das war eine aufwändige Arbeit. Aber ich hatte inzwischen ein Ziel: Ich wollte meinen Film beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten 2011 einreichen. Weil ich mich aber auch gleichzeitig aufs Abitur vorbereiten musste, habe ich abwechselnd gelernt und den Film geschnitten. Das war eine intensive Zeit.
Du hast es trotzdem geschafft und wurdest auf Bundes- und Landesebene prämiert. Das war nicht Dein erster Preis für eine Arbeit mit Zeitzeugen?
Als ich noch Schüler am Johanneum war, hatte ich zusammen mit fünf Mitschülern an einem Projekt über „Verfemte Musiker“ gearbeitet. Wir begaben uns auf die Spuren von fünf Musikern, die in der Nazizeit nicht auftreten durften und verfolgt wurden. Wir dokumentierten ihre Schicksale unter anderem mit Filmen und sprachen auch mit Zeitzeugen, die die Nazizeit letztlich dank ihrer Musik überlebt haben. Mit unseren Dokumenten gestalteten wir eine internationale Ausstellung, die wir auch in Los Angeles
Was wolltest Du mit Deinem aktuellen Film erreichen?
Mir geht es darum, die Menschen kennenzulernen, die in der Nazizeit so viel Unrecht erlitten haben. Es geht weniger um Fakten, als um die Personen und ihre Einzelschicksale. Es wird bald keine Zeitzeugen mehr geben, deshalb ist es wichtig, ihre Geschichten festzuhalten, damit sie in Erinnerung bleiben.