Eine große muslimische Hochzeitsgesellschaft, die in einem festlich dekorierten Saal bei Musik und Tanz ausgelassen feiert: Dieses Szenario empfängt den Zuschauer in dem Theaterprojekt „Halimahs Erwachen“, das von dem Medienprofil und der Theater-AG des Helmut-Schmidt-Gymnasiums in Hamburg Wilhelmsburg auf die Bühne gebracht wurde. In dem Projekt mit drei Variationen eines Theaterstücks konnte das Publikum einer nicht endenden Hochzeitsfeier beiwohnen, bei der das Mädchen Halimah im Mittelpunkt steht. Doch die Ereignisse rund um Halimah und ihre Familie sind alles andere als feierlich. Sie handeln von der Unterdrückung der Frauen, stellen fragwürdige Konzepte einer kulturell und religiös tradierten Welt dar, in der das männliche Oberhaupt der Familie das Sagen hat. Es geht um Tabuthemen wie Zwangsheirat und Ehrenmord, Jungfräulichkeit vor der Hochzeit und Homosexualität, um Ungleichheit in den Geschlechterrollen und widersprüchliche Moralvorstellungen in der Gesellschaft.
Themen, auf die die 30 Schülerinnen und Schüler des Theaterprojekts in ihrem Umfeld häufig treffen. „In der Schule habe ich oft erlebt, dass viele Jungen gegen Homosexuelle schimpfen. Das hat mich immer gestört“, berichtet Hewi Amin (19). Und Narin Bozkurt (18) stellt fest: „Die Jungs haben gegenüber Mädchen mehr Freiheiten. Sie werden zum Beispiel nicht verurteilt, wenn sie viele Beziehungen haben. Dagegen müssen Mädchen tugendhaft bleiben, sonst gelten sie als Schlampen.“ Das war für sie einer der Gründe, warum sie bei dem Theaterprojekt mitmachen wollte, das von Theaterlehrer Hedi Bouden geleitet wurde und drei sich ergänzende Aufführungen vorsah.
Im April 2018 wurde das Stück „Halimahs Erwachen – Lieber tot als ehrenlos!“ im Bildungszentrum „Tor zur Welt“ in Wilhelmsburg uraufgeführt. Im Juni 2018 kam in Kooperation mit dem Theater am Strom die Variante „Wie könnte ich stolz sein an deiner Stelle?“ in der Paul-Gerhardt-Kirche in Wilhelmsburg auf die Bühne. Im Mai 2019 folgte der Abschluss der Trilogie mit dem Stück „Halimahs Erwachen – Einladung zur Zwangsheirat“, aufgeführt im Phönix Veranstaltungssaal in Harburg. Die beteiligten Schülerinnen und Schüler begannen in der Klasse 10 mit der Arbeit an dem Projekt und haben mittlerweile ihr Abitur abgelegt. Doch ihr Projekt, zu dem auch zwei Poetry-Night-Veranstaltungen und Diskussionen gehörten, strahlt bis heute in den Stadtteil aus.
Wichtige literarische Vorlagen für die Inszenierungen waren Lessings „Emilia Galotti“ und Hebbels „Maria Magdalena“, wo es um Vater-Tochter-Beziehungen und Ehrenkodexe geht. Grundlegend war auch das Drama „Frühlings Erwachen“ von Frank Wedekind. In der am Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Tragödie geht es um eine Gruppe von Jugendlichen, deren Sexualität erwacht und die auf eine Gesellschaft stoßen, in der sexuelle Aufklärung ebenso tabuisiert ist wie die Auseinandersetzung mit Homosexualität oder Vorverurteilungen. Die immer noch erstaunlich aktuellen Themen hatten das Medienprofil und die Theater-AG zu ihrem ersten Stück „Halimahs Erwachen – Lieber tot als ehrenlos!“ und den darauf aufbauenden Inszenierungen inspiriert. Sie entwickelten eine Handlung, mit der sie die literarischen Klassiker mit heutigen Realitäten verbanden.
„In der Schule habe ich oft erlebt, dass viele Jungen gegen Homosexuelle schimpfen. Das hat mich immer gestört.“
„Im Kern unseres Stücks geht es um Halimah, eine starke, aufgeweckte junge Frau, die ihren Weg geht, aber von der Gesellschaft, schon weil sie ein Kopftuch trägt, nicht akzeptiert wird. Und dazu zwingt ihre Familie sie, einen ihr verhassten Cousin zu heiraten, um die Blutfehde mit einer anderen Familie zu befrieden“, erklärt Hewi. Außerdem hat Halimah Stress mit ihrem jüngeren Bruder Yahya. „Der ist homosexuell, was seine Familie aber nicht erfahren darf. Deshalb spielt er sich nach außen als besonders männlich auf und als derjenige, der die Ehre seiner Schwester verantworten muss, indem er sie zur Heirat drängt“, erläutert Narin.
Bei der Entwicklung dieser Geschichte hatten die Schülerinnen und Schüler auch auf aktuelle Nachrichten zurückgegriffen. „In der Zeitung hatten wir gelesen, dass eine junge Frau es ablehnte, ihren Cousin zu heiraten. Er versuchte, mit gefälschten Nacktfotos im Internet ihre Ehre zu besudeln. Nachdem sie jedoch ihre Unschuld beweisen konnte und eine Heirat mit ihm weiter verweigerte, schoss er ihr ins Gesicht“, berichtet Muhamed Emin Sekertag (20). In einer anderen Geschichte, die sich in Dubai ereignete, „hat ein Vater seine Tochter ertrinken lassen, weil er verweigerte, sie von männlichen Rettungskräften anfassen zu lassen“, schildert Hevi. Daraus leitet sich der Ausspruch: „Lieber tot als ehrenlos!“ her, der sich ebenso durch das Stück zieht wie der Ausruf: „Ich bin Halimah. Ich bin eine Tochter, eine Schwester, ein Mensch!“
Neben der Hauptgeschichte um Halimah sind weitere Szenen zu den Themen „Hochzeit“, „Ehre“ und „Gewalt gegen Frauen“ angelegt. „Wir wollten zum Beispiel zeigen, wie Familien ihre Kinder bei bereits arrangierten Hochzeiten manipulieren und Druck ausüben, damit sie zustimmen. So sagen Mütter ihren Töchtern etwa: ‚Wenn du ihn nicht heiratest, liebst du deine Familie nicht‘“, erläutert Narin. Neben der Rolle der Väter sei auch ein entlarvender Blick auf die Mütter wichtig, „denn mit ihrem Verhalten stützen und erhalten sie das System“, erklärt Angelina Schott (18). Es ereigneten sich immer noch zu viele Fälle, in denen Frauen derart unterdrückt würden, so die Schülerin. „Unser Ziel war es, mit unseren Stücken einen Diskurs anzuregen“, betont Hevi. „Viele Leute sind etwa gegen die Zwangsheirat, fragen sich aber, ob ihre Meinung richtig ist. In unseren Aufführungen sollten sie Argumente finden, die sie in ihrer Meinung stärken“, fügt Muhamed hinzu.
Dass die Resonanz bei allen drei Aufführungen überaus positiv war, hat die Schülerinnen und Schüler überrascht. „Wir hatten damit gerechnet, dass Leute uns beschimpfen, wenn wir so etwas auf die Bühne bringen. Doch sie waren froh, dass wir es gewagt haben, diese Tabuthemen anzusprechen“, berichtet Muhamed. Zweimal spielten die Schülerinnen und Schüler vor großem Publikum: Im Bildungszentrum „Tor zur Welt“ waren es rund 400 Zuschauerinnen und Zuschauer, im Phönix Veranstaltungssaal waren es sogar über 400. Der Saal, der wie ein Hochzeitssaal ausstaffiert war, war besonders überzeugend. „Viele Zuschauer haben gesagt, dass sie es ziemlich authentisch fanden“, sagt Narin.
Die inzwischen ehemaligen Schülerinnen und Schüler haben viel Positives aus ihrer Theaterarbeit mitgenommen. „Als wir damit begannen, mussten wir uns selbst erst mal überwinden, über diese Themen zu reden. In der Klasse ging das dann und wir sind mit der Zeit daran gewachsen und offener geworden“, resümiert Hewi.