Nicht weit entfernt vom Gymnasium Süderelbe, am Falkenbergsweg in Neugraben, befand sich bis 1945 ein Außenlager des KZ Neuengamme. Hier waren 500 Jüdinnen unter unwürdigen Bedingungen in Holzbaracken inhaftiert. Tagsüber mussten die aus Tschechien verschleppten Frauen an verschiedenen Plätzen rund um das Lager Zwangsarbeit leisten. „Sie verrichteten schwere Arbeiten im Straßen- oder Häuserbau am Falkenbergsweg“, sagt Bennet (17), Schüler des Gymnasiums Süderelbe. Heute ist von dem ehemaligen Lager nichts mehr zu sehen. Auf dem freien Gelände erinnert nur noch ein unscheinbarer Gedenkstein an das Schicksal der jüdischen Zwangsarbeiterinnen.
In der Schule war das ehemalige Außenlager bislang kein Thema. Aufmerksam auf dessen Geschichte wurden die Schülerinnen und Schüler des Profils „Sprache und Kultur“ durch eine Veranstaltung zum Gedenken an die Holocaust-Opfer. „Nur wenige von uns wussten bis dahin, dass dieses Lager existiert hat und unter welchen grauenvollen Bedingungen die Frauen dort leben mussten“, berichtet Nikolina (17) vom Gymnasium Süderelbe. Die Schülerinnen und Schüler des Profilkurses stammen nicht nur aus dem Gymnasium Süderelbe, wo der Profilunterricht stattfindet, sondern auch aus den Stadtteilschulen Neugraben-Fischbek und Süderelbe sowie aus dem Friedrich-Ebert-Gymnasium. Gemeinsam mit ihrer Lehrerin Maryam Anwary waren sie sich einig, dass sie mehr über das ehemalige Lager erfahren wollten, und sie fragten sich, ob ihre Mitschülerinnen und Mitschüler genauso wenig darüber informiert waren wie sie selbst.
Um das herauszufinden, starteten sie eine Umfrage in den Klassen 7 bis 12 im Gymnasium Süderelbe und befragten auch die Eltern. Das Ergebnis war ernüchternd. „Die wenigsten wussten etwas über das Lager und über die Zwangsarbeiterinnen“, sagt Larischa (16), Schülerin des Friedrich-Ebert-Gymnasiums. „Wir haben dann überlegt, woran das liegt und was wir dagegen machen können“, erläutert sie weiter. Die Jugendlichen stellten fest, dass es weder gut sichtbare Hinweise vor Ort gab noch Informationen im Internet zu finden waren. Und so entschlossen sie sich, als Erstes einen Text für einen Wikipedia-Eintrag zu verfassen.
Als Quellen dienten ihnen Bücher, Artikel und Recherchen, etwa aus der Geschichtswerkstatt sowie von Karl-Heinz Schultz, der sich seit vielen Jahren im Freundeskreis der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und in der Initiative „Gedenken in Harburg“ engagiert. Die Schülerinnen und Schüler nutzten nicht nur seine umfangreichen Kenntnisse über das Lager, sondern auch die von ihm zur Verfügung gestellten persönlichen Aussagen der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen. Schultz hatte im Laufe seiner Forschungen Kontakt zu rund 30 ehemaligen Inhaftierten des Außenlagers am Falkenbergsweg aufgenommen und auch beim Besuchsprogramm von ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in Hamburg mitgewirkt.
„Nur wenige von uns wussten bis dahin, dass dieses Lager existiert hat und unter welchen grauenvollen Bedingungen die Frauen dort leben mussten.“
In ihrem Wikipedia-Eintrag beschreiben die Jugendlichen das Lager. 1943 waren in einem Teil des Lagers italienische Kriegsgefangene interniert. Im Sommer 1944 wurden die Baracken geräumt. Im September 1944 wurde hier ein Frauenlager eingerichtet. „Die Frauen kamen aus dem in Tschechien liegenden KZ Theresienstadt in das polnische Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Sie wurden von SS-Ärzten als arbeitsfähig eingestuft und weiter nach Hamburg transportiert“, schildert Laura (17) von der Stadtteilschule Süderelbe. Im KZ-Außenlager Neugraben wurden bis zu 26 Frauen in einen Raum gepfercht. Die Bedingungen waren für die Inhaftierten im Alter von 16 bis 45 Jahren katastrophal. „Sie trugen nur dünne Kleidung und Holzschuhe, auch im Winter, bekamen wenig zu essen und es war der Bevölkerung verboten, ihnen Essen zuzustecken. Manche taten es aber trotzdem“, weiß Julia (16) vom Gymnasium Süderelbe. Die Jugendlichen stellten zu den Fakten auch Links mit kurzen Biografien von fünf ehemals inhaftierten jüdischen Frauen online. Die Arbeit an dem Wikipedia-Eintrag sei sehr lehrreich, aber auch anspruchsvoll gewesen. „Wichtig waren die exakten Quellenangaben und erst nachdem der Text von Experten verifiziert worden war, konnte er freigeschaltet werden“, berichtet Asiah (16) vom Gymnasium Süderelbe.
Oberstes Ziel der Jugendlichen war es, mit ihrem Eintrag eine breite Öffentlichkeit zu informieren. Doch das allein reicht ihnen nicht. Sie wollen auch erreichen, dass das Thema im Geschichtsunterricht ihrer Schule verankert wird. „Wir haben ja einen besonderen Bezug dazu, weil sich das Außenlager in unmittelbarer Nachbarschaft zu unserer Schule befand. Deswegen wollen wir, dass es im Geschichtsunterricht behandelt wird“, sagt Judith (17) vom Gymnasium Süderelbe. Ihre Forderung, das Thema in das schulinterne Curriculum für das Fach Geschichte aufzunehmen, trugen sie bereits ihrem Fachleiter für Geschichte vor. Mit erstem Erfolg. Der Pädagoge lud sie ein, ihr Anliegen und ihre Argumente im März 2020 auf der Fachkonferenz der Geschichtslehrkräfte vorzustellen.
Zusätzlich wollen die Schülerinnen und Schüler einen Dokumentarfilm erstellen. Sie haben dafür bereits mehrere Interviews mit Karl-Heinz Schultz geführt. „Dessen umfangreiches Wissen möchten wir für die nachfolgenden Generationen im Film festhalten und weitergeben“, erklärt Larischa. Der Film soll professionell produziert werden, weshalb die Jugendlichen Kontakt zum Filmemacher Ulrich Raatz aufgenommen haben. „Für die Arbeit mit Ulrich Raatz hat uns der Verein ‚Kulturhaus Süderelbe‘ ein Startkapital von 500 Euro gespendet. Wir sind jetzt dabei, weitere Spenden zu sammeln, und freuen uns deshalb auch sehr über unsere Auszeichnung mit dem BERTINI-Preis – denn auch das Preisgeld wollen wir für den Film verwenden“, sagt Judith. Die Jugendlichen planen weitere Aktionen wie das Aufstellen von neuen Hinweisschildern und Informationstafeln vor und auf dem Gelände des ehemaligen Frauenlagers. Auch damit wollen sie das Thema ins öffentliche Bewusstsein bringen. „Dieser grauenvolle Teil der Geschichte darf nicht unter den Teppich gekehrt werden“, betont Nikolina.