Vom 16. bis zum 20. April 2013 kam eine Gruppe von polnischen Staatsangehörigen auf Einladung des Senats nach Hamburg. Für die Besucher war es eine besondere Reise, denn sie kehrten zurück an ihren Geburtsort. Zwölf der vierzehn Gäste sind vor über 70 Jahren in der Hansestadt zur Welt gekommen. Sie sind Kinder ehemaliger polnischer Zwangsarbeiter. Ihre Eltern wurden aus Polen nach Deutschland verschleppt, um in der Landwirtschaft oder in Fabriken unter harten Bedingungen zu arbeiten. Untergebracht waren sie zumeist in Lagern, die aus einfachen Baracken bestanden. Für Zwangsarbeiterinnen mit Säuglingen war die Situation besonders schwer. Teilweise gab es Krippen für die Kinder, doch die Versorgung und Betreuung war schlecht.
Elf Schülerinnen und Schüler des muttersprachlichen Polnisch-Kurses an der Stadtteilschule Barmbek bereiteten sich intensiv auf diesen Besuch vor. Die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe an der Krausestraße wollten die Gäste an für sie wichtige Orte in Hamburg begleiten und von ihnen erfahren, wie sie und ihre Eltern die Zeit in der Hansestadt damals erlebt haben. Gemeinsam mit der Filmwerkstatt des Kulturzentrums Motte e. V. sollte auch ein Film über die Begegnung entstehen. „Es war eine der letzten Gruppen, die auf Einladung des Senats nach Hamburg kam, und es wird bald keine Zeitzeugen mehr geben. Deswegen war es uns wichtig, diese Menschen zu treffen und ihre Erinnerungen für die Nachwelt festzuhalten“, berichtet Adriana Grahl, 19.
Gemeinsam mit der Leiterin des Polnisch-Kurses Elisabeth Kalina befassten sich die Schülerinnen und Schüler zunächst mit dem Thema Zwangsarbeit unter den Nationalsozialisten. In Gruppen aufgeteilt, recherchierten sie an unterschiedlichen Orten wie Stadtteilarchiven und Geschichtswerkstätten. Sie fanden Informationen über Fabriken wie etwa in Bergedorf, in denen Zwangsarbeiter beschäftigt wurden, und über Orte, an denen sie in Lagern gelebt hatten. „Im Archiv der Gedenkstätte KZ-Neuengamme konnten wir auch auf Zeitzeugeninterviews zurückgreifen und uns so besser in die Lage unserer Besucher hineinversetzen“, so Ines Styp-Rekowski, 20. Einige Schülerinnen und Schüler nahmen im Rahmen einer Ausstellung über Zwangsarbeit in der Zentralbibliothek auch an einem Workshop zum Thema Zeitzeugen teil.
Über David Rojkowski vom Freundeskreis der Gedenkstätte KZ-Neuengamme hatten die Schülerinnen und Schüler Informationen zu den Lebensgeschichten der Besucher bekommen. Damit konnten sie sich auch auf konkrete Spurensuche begeben. Die Kinder der Zwangsarbeiter wurden in der früheren Frauenklinik Finkenau oder im Universitäts-Klinikum Eppendorf (UKE) geboren. So forschten die Schülerinnen und Schüler unter anderem am Medizinhistorischen Institut der Universitätsklinik Eppendorf nach Dokumenten. Im Geburtsregister des UKE fanden sie schließlich den Namen einer Frau aus der Besuchergruppe. „Als wir ihr später bei ihrem Besuch in Hamburg das Geburtsregister mit ihrem Namen zeigen konnten, hat sie sich gefreut“, sagt Adriana. Denn wie die meisten anderen hatte sie damals keine Urkunde oder einen sonstigen Nachweis über ihre Geburt in Hamburg erhalten. Erst bei ihrem jetzigen Aufenthalt erhielten die hier Geborenen während der Begrüßung im Rathaus nachträglich auch Geburtsurkunden.
„Über ihre Erinnerungen konnten wir die Geschichte sozusagen hautnah erfahren. Das ist viel berührender, als es in Büchern zu lesen“
Während ihrer Recherchen standen die Hamburger Schülerinnen und Schüler im Austausch mit Schülerinnen und Schülern einer Danziger Schule. Schon öfter hat die Stadtteilschule Barmbek an Projekten im Bereich Denkmalschutz teilgenommen und dabei mit der polnischen Partnerschule zusammengearbeitet. Nun befassten sich auch dort einige Schülerinnen und Schüler mit den Lebensgeschichten der ehemaligen polnischen Zwangsarbeiter. Einige von ihnen begleiteten die polnische Besuchergruppe schließlich auf ihrer Reise nach Hamburg.
Als die Gäste im März 2013 kamen, waren die Schülerinnen und Schüler gut vorbereitet. Sie hatten eine Besichtigungstour an jene Orte ausgearbeitet, die zu den Lebensgeschichten ihrer Besucher gehörten. „Wir waren zum Beispiel auf dem Gelände der früheren Frauenklinik Finkenau und haben erklärt, dass das Gebäude jetzt Teil des Kultur- und Mediencampus der Hochschule für Angewandte Künste ist“, sagt Ines. Die Schülerinnen und Schüler hatten auch ein Drehbuch und einen Fragenkatalog zusammengestellt. „Wir haben die Zeitzeugen in kleinen Gruppen interviewt, wollten von ihnen wissen, was ihnen beispielsweise ihre Eltern aus der Hamburger Zeit erzählt haben und wie es war, als sie nach Polen zurückkehrten“, berichtet Adriana. Daraus entwickelten sich spannende Gespräche, die auf der DVD „Erinnerung schenken“ in einem rund 20-minütigen eindrucksvollen Film zu erleben sind.
Von den Tagen der Begegnung waren sowohl die Gäste als auch die Jugendlichen begeistert. „Es war schön, die Menschen persönlich kennenzulernen. Die Atmosphäre war sehr freundlich und wir haben viel gelacht“, beschreibt Adriana die Begegnungen. Hilfreich für die gute Verständigung waren dabei auch die polnischen Sprachkenntnisse der Schülerinnen und Schüler. Während sie den Gästen aus Polen mit Ortsbesuchen und Informationen ein Stück ihrer Geschichte erfahrbar machen konnten, bekamen sie auch viel von ihren Gästen zurück: „Über ihre Erinnerungen konnten wir die Geschichte sozusagen hautnah erfahren. Das ist viel berührender, als es in Büchern zu lesen“, sagt Ines.