22 Schüler und Schülerinnen des Alexander-von-Humboldt-Gymnasiums blicken in das Jahr 2030. Dort existiert eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Sie besteht aus natürlich gezeugten Menschen und aus solchen, die genetisch manipuliert wurden. Das sind die validen Menschen, die Perfekten und Guten. Die natürlichen Menschen werden dagegen als „in-valid“ bezeichnet und als wertlos angesehen. In ihrem selbstverfassten Theaterstück „Blutdruck“ spielen die Jugendlichen die gesellschaftlichen Folgen der Genmanipulation durch. „Wir wollten die Diskriminierung von Menschen einmal nicht historisch betrachten, sondern schauen, wie das in der Zukunft aussehen kann“, beschreibt Melina Meiring, 17, ihre Motivation.
Auf der Suche nach einem Thema für ihr Theaterprojekt unter Regie der stellvertretenden Schulleiterin Sabine Hansen stießen die Schülerinnen und Schüler immer wieder auf das Stichwort „Genforschung“. „Einige von uns hatten sich in den Fächern Religion und Biologie auch mit der Stammzellenforschung und Präimplantationsdiagnostik (PID) befasst“, berichtet Alexander Rieck, 18. Die ethischen Fragen zu den wissenschaftlichen Forschungen, etwa ob man Embryos für einen speziellen Zweck züchten und dann einfach vernichten darf, werden bereits aktuell diskutiert. „Es gibt ja jetzt schon die Technik, mit der man erkennen kann, ob das Kind Krankheitsrisiken hat und ob es ein Junge oder ein Mädchen wird“, sagt Lea von der Weppen, 17. Der nächste Schritt, Embryos nach den Wunschvorstellungen der Eltern zu produzieren, scheint mit voranschreitender Forschung nicht mehr weit entfernt zu sein und auf diese Aussicht zielt das Stück der Schülerinnen und Schüler.
„Jemanden von vornherein auszugrenzen, weil er nicht so ist wie die anderen, ist diskriminierend und erinnert an die Nazi-Herrschaft“
Hauptfigur ist das Mädchen Jessica. Sie ist „in-valid“, denn sie wurde nicht als perfektes Kind im Reagenzglas, sondern auf natürlichem Weg gezeugt. „In-Valide haben in verschiedenen Kategorien schlechte Werte, zum Beispiel ist der Intelligenzquotient zu niedrig, sie haben alle möglichen Krankheitsrisiken oder psychische Auffälligkeiten oder sie sind suchtgefährdet“, erklärt Julian Scheinkönig, 18. Die Protagonistin Jessica möchte gern an einer Universität studieren und in der Uni-Mannschaft ihrem Lieblingssport Handball nachgehen. Doch das darf sie als In-Valide nicht. Schließlich trifft sie die valide Sophie, die nach einem Unfall im Rollstuhl sitzt. Sie schlägt ihr einen Rollentausch vor. Eine Ärztin hilft, die körperlichen Veränderungen an Jessica vorzunehmen. Dann ist für sie der Weg frei. Sie geht an die Uni, spielt erfolgreich in der Handballmannschaft und verliebt sich. Das weckt die Missgunst von anderen und verstärkt für Jessica die Gefahr, ihre falsche Identität als Valide könnte bei einem unangekündigten Bluttest auffliegen. Am Ende passiert das tatsächlich und es bleibt offen, ob sie an der Uni bleiben darf.
Als Vorlage diente den Gymnasiasten der Science-Fiction-Film „Gattaca“, den Andrew Nicol 1997 gedreht hatte. Auch hier gibt es Valide und In-Valide und die Überwachung durch Gentests, die in-valide Menschen von anspruchsvollen Berufen fernhalten. „Anfangs haben wir uns am Film orientiert, dann aber immer mehr davon entfernt, denn wir wollten ein eigenes Stück schreiben“, sagt Anna Wendt, 18. So haben die Schülerinnen und Schüler für ihre Geschichte, anders als im Film, wo es um einen Astronauten geht, eine ihnen näherliegende Umgebung wie die Universität gewählt. „Um zu unseren eigenen Szenen zu kommen, haben wir uns in Gruppen aufgeteilt und jede Gruppe hat Szenenvorschläge geschrieben“, so Nele Hornig, 17. Eine Skriptgruppe sorgte dafür, dass der rote Faden nicht verloren geht und die Szenen zueinander passen. So entstanden die eigentliche Handlung, aber auch zusätzliche Szenen, die das Thema in all seinen Facetten aufzeigen, und heitere Episoden, die das Stück abwechslungsreich machen sollten.
Für die Proben nutzen die Jugendlichen nicht nur Unterrichtsstunden, sondern auch ihre Freizeit an mehreren Wochenenden. Auch die Kulisse haben die Schülerinnen und Schüler selbst gebaut. „Es sollte zukunftsmäßig, kalt und steril aussehen, deswegen haben wir auf Farben verzichtet und weiße Wände benutzt“, erklärt Alexander. Im September 2014 wurde das Stück schließlich in der Pausenhalle der Nachbarschule zwei Mal aufgeführt. Insgesamt haben es 230 Zuschauer gesehen.
Die Reaktionen waren positiv. „Während der Aufführung war das Publikum sehr aufmerksam. Es war kaum ein Laut zu hören“, schildert Anna. „Aber anschließend gab es viele positive Rückmeldungen“, ergänzt Melina. Die Schülerinnen und Schüler hatten das Publikum teilweise mit eingebunden. „Das kam sehr gut an“, sagt Julian. Besonders aber freute die Jugendlichen, dass viele Zuschauer die gewählte Thematik lobten. Manche sagten, sie seien sich der Risiken der Genforschung noch gar nicht so bewusst gewesen, berichtet Melina. Damit haben die Schülerinnen und Schüler ein Ziel erreicht: „Es gibt ja Vorteile und Chancen in der Genforschung, aber eben auch Risiken, was den Missbrauch betrifft. Und wir wollten erreichen, dass sich jeder Gedanken macht“, erklärt Melina. „Wissenschaftliche Fortschritte sollten nicht einfach hingenommen, sondern auch hinterfragt werden“, ergänzt Alexander.
Die Schülerinnen und Schüler vermitteln mit ihrem Stück noch eine weitere Botschaft: „Jemanden von vornherein auszugrenzen, weil er nicht so ist wie die anderen, ist diskriminierend und erinnert an die Nazi-Herrschaft“, betont Lea. Die Vernichtung von angeblich minderwertigem Leben, wie die Nazis es massenhaft taten, darf nicht wieder geschehen, sind sich die Jugendlichen einig.
Neben den inhaltlichen Erkenntnissen hat den jungen Schauspielern die intensive Theaterarbeit auch persönlich etwas gebracht. „Dadurch wurde der Zusammenhalt in der Gruppe gefestigt“, sagt Julian. Und Melina meint, „dass das Theaterspielen viel für das eigene Selbstbewusstsein gebracht hat“. Und für das selbstbestimmte Handeln. „Wir haben alles in Eigenregie auf die Beine gestellt“, betont Nele. Auf das Ergebnis können die Schülerinnen und Schüler mit Recht stolz sein.
„Wir wollten die Diskriminierung von Menschen einmal nicht historisch betrachten, sondern schauen, wie das in der Zukunft aussehen kann“