Grußwort von Ksenija Bekeris, Senatorin für Schule und Berufsbildung
Sehr geehrter Herr stellvertretender Bürgerschaftspräsident Frank Schmitt,
sehr geehrte Abgeordnete der Hamburgischen Bürgerschaft,
sehr geehrte Mitglieder des konsularischen Korps,
liebe Frau Peggy Parnass, Frau Marina Jacob (letzte Lebensgefährtin von Ralph Giordano), Frau Christa Goetsch, Frau Mo Asumang (Festrednerin),
liebe Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler, Preisträgerinnen und Preisträger des Bertini-Preises 2024/2025,
liebe Förderer und Mitglieder des Bertini-Preis e.V.,
sehr verehrte Gäste,
heute vor genau 80 Jahren, am 27. Januar 1945, wurden die letzten Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz befreit. „Auschwitz“ steht seither als Synonym für das noch heute kaum fassbare Grauen und den Terror, den die nationalsozialistische Gewaltherrschaft über Deutschland und große Teile Europas brachte.
Hieraus resultiert eine Verantwortung der nachwachsenden Generationen, an Unmenschlichkeit und Unrecht, an Leid und Tod zu erinnern und dafür Sorge zu tragen, dass sich solches nie wiederholt. [
„Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen. Es ist deshalb wichtig, (…) eine Form des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer über Leid und Verlust ausdrücken, dem Gedenken an die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr der Wiederholung entgegenwirken“ – so der damalige Bundespräsident Roman Herzog im Jahr 1996 anlässlich der Einrichtung des Gedenktags an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Seine Worte gelten noch heute.
Mit dem Gedenktag ist der Wunsch verbunden, dass junge Menschen über die Vergangenheit nachdenken und aus dieser Vergangenheit Konsequenzen ableiten für das eigene Handeln in Gegenwart und Zukunft. Und so ist es nur folgerichtig, dass der Bertini-Preis – heute, am 27. Januar, der seit 2005 auch der internationale Holocaust-Gedenktag ist, verliehen wird.
Der Preis geht an Jugendliche und junge Erwachsene.
Sie haben sich in besonderer Weise mit den Folgen von Ausgrenzung und Diskriminierung, mit der Erinnerung an die Verbrechen der NS-Zeit, aber auch mit Freiheit und Demokratie und mit Zivilcourage befasst.
Gerade Zivilcourage, das Sich-Einsetzen gegen Unrecht und Gleichgültigkeit, war es, was Ralph Giordano nicht nur in seinem Roman „Die Bertinis“ und damit in der Zeit der Verfolgung seiner Familie, sondern auch nach 1945 in der deutschen Gesellschaft so schmerzlich vermisste und daher immer wieder anmahnte.
Sie, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, stehen für Zivilcourage. Sie haben sich mit vergangenem Unrecht oder aktuellen Missständen auseinandergesetzt.
Schon seit 1999 werden junge Menschen mit dem Bertini-Preis für Projekte ausgezeichnet, mit denen sie sich einbringen und genau hinschauen, wenn sie Demokratiefeindlichkeit, Ausgrenzung und Rassismus wahrnehmen – Erscheinungen, die sich auch in unserer Stadtgesellschaft finden.
Mit Ihren Projekten machen Sie sich heute gegen das Vergessen stark, Sie setzen sich für das aktive Erinnern ein, für Demokratie und für ein gleichberechtigtes Miteinander in Ihrer Schule, in Ihrem Verein, in Ihrer Nachbarschaft, in unserer Stadt. Und dafür gebühren Ihnen mein besonderer Dank und große Anerkennung.
Warum ist dieses Engagement von so großer, preiswürdiger Bedeutung? Hier möchte ich noch einmal den ehemaligen Bundespräsidenten zitieren. Als er den 27. Januar zum Gedenktag erklärte, verwies er auf unsere kollektive Verantwortung, Unrecht zu verhindern und sich für Recht und Demokratie einzusetzen. Diese kollektive Verantwortung, so Herzog, gehe in zwei Richtungen (ich zitiere hier noch einmal wörtlich):
„Zunächst darf das Erinnern nicht aufhören; denn ohne Erinnerung gibt es weder Überwindung des Bösen noch Lehren für die Zukunft. Und zum andern zielt die kollektive Verantwortung genau auf die Verwirklichung dieser Lehren, die immer wieder auf dasselbe hinauslaufen: Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte, Würde des Menschen."
Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte, Würde des Menschen – das sagen wir so leicht, aber dies sind die Grundpfeiler unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Denn gerade heute ist es notwendiger denn je, zu betonen, dass Freiheit und Menschenwürde, Demokratie und das Bekenntnis zu Toleranz und Empathie nicht nur in der mittlerweile fernen Vergangenheit gefährdet waren. Sie sind auch in der Gegenwart wieder bedroht. Auch heute werden in Deutschland Menschen verhöhnt und diskriminiert, ausgegrenzt und beschimpft.
Vielleicht sind wir zu lange davon ausgegangen, dass die Spielregeln des demokratischen Zusammenlebens in dieser Gesellschaft fest verankert und selbstverständlich sind. Vielleicht haben wir geglaubt, dass sich Demokratie – gewissermaßen - von selbst in die nächste Generation vermittelt.
Vielleicht haben wir nicht hinreichend beachtet, dass sich der Wert von Freiheit und Toleranz, von Gerechtigkeit und Solidarität nicht aus sich selbst heraus versteht, sondern erlernt werden muss. Wir müssen an dieser Stelle auch selbstkritisch sein.
Aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen zeigen uns, dass Freiheit und Demokratie nicht selbstverständlich und dauerhaft sicher sind.
Vielmehr sind sie prekäre, gefährdete Güter. Ihren Wert spüren wir häufig erst, wenn sie verloren sind. Und dann sind zunächst vielleicht gar nicht wir selbst, sondern andere betroffen, sodass es scheinbar nicht so weh tut.
Aber so zu denken ist gefährlich, denn der Verlust von Freiheit Anderer führt nach und nach dazu, dass auch wir alle Freiheiten verlieren.
Deshalb sind wir alle aufgefordert, Freiheit und Demokratie zu verteidigen. Wir dürfen die Schwächung oder gar Abschaffung unserer demokratischen Ordnung nicht zulassen.
Deshalb ist es auch so wichtig, aus den Erfahrungen der Vergangenheit zu lernen und die Erinnerung an diese weiterzugeben.
Deshalb gibt es den Bertini-Preis.
Das bedeutet für mich:
Wenn wir unsere Demokratie, unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung erhalten und bewahren wollen, brauchen wir eine Bildung und Erziehung, die zum verantwortlichen Gebrauch der Freiheit gleichermaßen befähigt und ermutigt – und die ebenjene Freiheit und Demokratie auch erlebbar macht.
Zu vermitteln sind die Fähigkeit und Bereitschaft, Recht von Unrecht zu unterscheiden, Demokratie wertzuschätzen und rechtsstaatliche Prinzipien zu akzeptieren und zu vertreten.
Insbesondere unsere Schulen sollen, ja sie müssen viel dazu beitragen, dass junge Menschen den Wert von Freiheit und Toleranz, von Gerechtigkeit und Gemeinschaftssinn erkennen und vertreten.
Junge Menschen verbringen einen Großteil ihrer Zeit in der Schule. Schule soll aber nicht nur die Grundlagen, das Wissen über die demokratische Ordnung vermitteln. Schule soll selbst ein Ort sein, an dem Demokratie erlebbar wird. Das bedeutet natürlich erst einmal ein Stück Arbeit, ich weiß.
Schülerinnen und Schüler sind Teil unserer Gesellschaft, es ist wichtig, dass sie eingebunden und ernst genommen werden. Sie gestalten unsere Gesellschaft mit. Dafür benötigen sie ein Wertesystem, das Orientierung bietet. Schule ist dafür maßgeblich verantwortlich. Somit ist Schule kein wertneutraler Ort, sie kann und soll es auch nicht sein.
Schülerinnen und Schüler sollen befähigt werden, sich aktiv in politische Prozesse einzubringen und zu erkennen, dass ihre Stimme, ihr Engagement einen Unterschied macht. Sie sollen befähigt werden, sich bereits in Schule an relevanten Entscheidungen zu beteiligen und Mitspracherechte wahrzunehmen.
Mit den Leitperspektiven in den Bildungsplänen stellen wir die „Werte für ein gelingendes Zusammenleben in einer solidarischen, vielfältigen Gesellschaft“ als eine besondere Querschnittsaufgabe allen Fächern voran. Demokratiebildung wird damit zu einem Kernelement jedes Unterrichts, und dies nicht nur in einschlägigen Fächern wie Geschichte und Politik.
Dies war bereits ein bedeutsamer Schritt. Aber dabei wollen wir es nicht belassen. Weil mir Demokratiebildung ein so zentrales Anliegen ist, wollen und werden wir diese weiter stärken.
So entwickeln wir ein gemeinsames Leitbild, in dem wir ein grundlegendes Verständnis über Demokratiebildung in allen Lebens- und Bildungsphasen von der Vorschule bis hin zum lebenslangen Lernen konzentriert zusammenführen.
Wir werden dem Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung und der Landeszentrale für politische Bildung ermöglichen, Schulen Projekte wie die Demokratiewerkstatt zukünftig in noch größerem Umfang als bislang anzubieten oder eigene Projekte der Demokratiebildung zu realisieren.
Gleichzeitig soll die Lehrkräftequalifizierung im Bereich der Demokratiebildung deutlich ausgeweitet werden.
Durch das Startchancenprogramm können wir zusätzlich die Förderung der demokratischen Teilhabe ebenfalls personell und materiell nachhaltig verbessern.
Darüber hinaus will ich erreichen, dass alle Hamburger Schülerinnen und Schüler im Laufe ihrer Schulzeit eine Gedenkstätte besuchen und dort hautnah, eingebettet in ein Unterrichtskonzept, unsere lebendige Erinnerungskultur kennenlernen.
Die erst am Donnerstag veröffentlichte internationale Befragung im Auftrag der jüdischen Claims Conference zeigt erschreckende Ergebnisse, auch für Deutschland.
Zwar wissen die Deutschen im Vergleich mit sieben anderen Ländern immer noch am meisten über die Schoa, dieses Wissen nimmt erschreckenderweise aber ab.
Die Studie gibt uns einen erneuten mahnenden Anlass, gerade am 27. Januar, noch stärker grundlegendes Wissen über den Holocaust und die Schoah zu vermitteln. Gleichzeitig müssen wir das übergreifende Thema Demokratiebildung sehr viel stärker in den Fokus nehmen. Beides muss, mehr noch als bisher, zu einem zentralen Auftrag der Schulen gemacht werden.
Hamburgs Schulen müssen, mehr noch als bisher, ein Ort gelebter Demokratie werden. Hier müssen demokratische Prozesse im täglichen Miteinander erprobt und eingeübt werden.
Schulen als Ort der Demokratie muss von allen Beteiligten gemeinsam, Schulen, Schulgemeinschaften, Schulbehörde, Landesinstitut sowie von Kooperationspartnern mit Tatkraft vorangetrieben werden. Dafür setze ich mich ein!
Abschließend möchte ich zurück zum Anlass der heutigen Feierstunde kommen – der Verleihung des Bertini-Preises. Der Preis soll für Sie, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, eine deutlich sichtbare Würdigung Ihrer Aktivitäten für Hamburg, für unsere Stadtgesellschaft, für Engagement und Zivilcourage sein. Zugleich ist er Anregung und Ermutigung auch für andere junge Menschen, sich gleichermaßen kreativ und couragiert für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte einzusetzen.
Schon jetzt gratuliere ich Ihnen, den Preisträgerinnen und Preisträgern, sehr herzlich. Ich danke Ihnen für die Zeit und die Energie, die Sie in Ihre Projekte investiert haben. Zugleich danke ich der Jury und allen Weiteren, die dazu beigetragen haben, dass auch 2025 der Bertini-Preis wieder in einem so schönen und würdigen Rahmen vergeben werden kann.
Der Preis ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie aus Erinnern und Gedenken, aus Empathie und Hilfsbereitschaft Engagement entsteht: für unsere Gesellschaft, für unser demokratisches Miteinander, für unsere geteilten Werte.
Vielen Dank!